Ausgabe 03/19 -

Vorne ist immer da, wo sich noch niemand auskennt.

Um neue Wege und Lösungen zu finden, muss man die alten radikal verlassen, und das ist nicht leicht, geschweige denn einfach, sagt Markus Petzl, Disruptionsexperte und Berater vieler namhafter Unternehmen.

Herr Petzl, Sie befassen sich mit dem ­Phänomen der innovativen Disruption. Was ­verstehen Sie darunter?
Markus Petzl: Ganz einfach vorgestellt ist die disruptive Innovation etwas technologisch Neues, das etwas Altes beinahe völlig ablöst. Weil das Neue leistungsfähiger, einfacher, zugänglicher oder schlicht günstiger ist. So hat das Dampfschiff das Segelschiff abgelöst. Das Automobil zur Zeit unserer Urgroßeltern die Pferdekutsche. Und heute eben das Streaming via Spotify oder Apple Music die CD oder LP unserer Eltern.

Findet Digitalisierung überall statt? ­Werden die neuen Trends alle Unternehmen und ­Branchen betreffen?
Markus Petzl: Digitalisierung findet überall dort statt, wo unsere menschliche Innovations- und Vorstellungskraft die Digitalisierung im Stande ist, hinzudenken. Kurz gesagt: Ich glaube an den menschlichen Innovationsgeist. Und der wird alle Branchen treffen, in denen es einfach etwas zu verbessern oder zu vereinfachen oder zu demokratisieren gilt.

Warum fällt es vielen Unternehmen schwer, sich auf den konstanten Wandel einzulassen und diesen aktiv zu gestalten?
Markus Petzl: Weil der Mindset der meisten ­Institutionen und Unternehmen der des Bestandes und nicht jener der ständigen Erneuerung ist. Genau da fängt die Herausforderung an. An der Schnitt- oder besser Bruchstelle „Bestand und Erneuerung“. Hier braucht es Leadership und ein Denken in und auf beiden Seiten. Also das Bestehende effizient und stabil zu halten und das Neue zuzulassen und zu entwickeln. Quasi ein bipolares Management. Nicht ganz einfach also.


Was haben Firmen aus dem Silicon ­Valley, Shanghai oder Tel Aviv europäischen ­Unternehmen voraus?
Markus Petzl: Sie sind per se innovativer. Das liegt jeweils in der Kultur der Standorte ­behaftet. Wobei alle drei Standorte ein ganz besonders innovativ-unternehmerisches Mikroklima haben, das vor Ort Wundervolles bewirkt. Die Kraft­quelle ist also zuallererst die Kultur. Dann kommt die Technologie. Und darauf baut ein ­beeindruckender Geschäftssinn auf. Es funktioniert nicht, einfach mal das Silicon Valley hier oder dort auszurufen. Das ist schlechtes Marketing. Die Sache ist viel tiefer gelagert.

Den Mutigen und Unvernünftigen „gehört“ also die Welt?
Markus Petzl: Hat sie schon immer. Wobei ich eher behaupte: „Die Mutigen und Unvernünftigen haben die Aufgabe, die Welt für uns alle zu gestalten.“ Im Wort Aufgabe steckt übrigens das Wort Gabe. Und wer diese besondere Gabe des Mutes und der Unvernunft hat, der sollte ihr auch in unser aller Sinne verpflichtet sein. F. W. Raiffeisen war beispielsweise mit der Idee der „Hilfe zur Selbsthilfe“ ein wichtiger ­sozialer Disruptor. Besser könnte man die heutige Blockchain-Technologie nicht beschreiben.

Stimmt der Spruch „der frühe Vogel fängt den Wurm“ wirklich? Müssen Start-ups nicht oft erst Lehrgeld bezahlen?
Markus Petzl: Jein. Nur früh aufzustehen ist zwar ein guter Anfang, aber noch bei weitem zu wenig. Klar müssen sie Lehrgeld (und Leergeld) zahlen. Sie müssen dabei möglichst schnell nach vorne scheitern. Ausprobieren. Trial & Error. Und: Start-ups haben den riesigen Vorteil, dass sie ganz vorne anfangen können. Keine ­Grenzen haben. Keinen Bestand verwalten müssen. Keine Controller im Rücken haben. Sie können auf den Zauber das Anfangs setzen. Übrigens sind viele Start-ups nach drei bis fünf Jahren oft ­Companies mit ein paar tausend Mitarbeitern. Und dann gibt’s schnell auch Bestand und Controlling.

Was sollte florierende Unternehmen mit einem erfolgreichen Geschäftsmodell dazu bewegen, sich total zu verändern?
Markus Petzl: Weil sie hoffentlich wissen, dass ihr Erfolg immer ein temporärer ist. Ein von Markt und Gesellschaft gepachteter. Eine kleine Stunde Wirtschafts- und Sozialgeschichte wirkt oft Wunder. Dann erkennt man, dass nicht jedes Geschäftsmodell zu jeder Zeit funktionieren konnte. Fuhrwerksunternehmer hatten ihr goldenes Zeitalter. Segelmacher übrigens auch. Warum sollte die Geschichte ausgerechnet vor Supermärkten oder Banken haltmachen?

Wie denkt und handelt ein echter Disruptor?
Markus Petzl: Ein echter Disrupter denkt vor ­allem einmal in Möglichkeiten. Er denkt groß und ist dabei richtig optimistisch. Er will die Welt verändern. Seine Fehlerkultur ist das Erkennen der Fehler der bestehenden Unternehmen. Er sieht ihre „Schmerzpunkte“, setzt da an und optimiert das Geschäftsmodell zum Kunden hin. Er setzt sich also zwischen den alten Anbieter und seine bestehenden Kunden in den Markt. Unterstützt durch neue Technologien, die völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Vorne ist immer da, wo sich noch keiner auskennt, da vorne ­entstehen die neuen Märkte.

INFOS ZUR PERSON

Markus Petzl ist Gründer von „disruptive – beyond your strategy“. Er begleitet Unternehmen und Institutionen seit 20 Jahren bei strategischen Veränderungen und berät renommierte Unternehmen bei großen neuen Schritten. Unter anderem in den Branchen Finance, Energy, Bau, Handel und Medien. Petzl gilt als einer der Experten in Sachen „disruptive strategy“, ist vielgebuchter Redner im deutschsprachigen Raum und ein leidenschaftlicher ­Unternehmer.

 


Sie begleiten und beraten Unternehmen beim Wechsel in eine exponentielle Welt. Was ist Ihnen dabei wichtig?
Markus Petzl: Wichtig ist, dass man gemeinsam bereit ist, die Augen zu öffnen. Dass man bereit ist, über den eigenen Schatten des Erfolges zu springen. Dass der Prozess zugleich breit und auf Top-Level verankert ist und eben nicht nur Sache der Innovationsabteilung wird. Hier geht’s um eine strategische Ausrichtung. Um das große Ganze. Und dafür braucht es dann auch die ­Bereitschaft zu investieren und zu riskieren. Zum Beispiel für und mit neuen Technologien.

Markus Petzl – Portrait

Sie sind Unternehmer und an einem Start-up beteiligt, das den europäischen Strommarkt auf den Kopf stellen will. Wie erfolgreich ist das ­Unternehmen? Oder haben auch Sie die Erfahrung gemacht: grau ist alle Theorie?
Markus Petzl: Haha. Learning by doing ist noch immer die beste Beraterschule. Und das Geniale ist, dass wir gerade alle Höhen und Tiefen durchmachen. Also ganz viel Adrenalin, Dopamin und Kopfschmerzen inklusive. Wir sind noch ganz ­bewusst unter dem Radar und haben unsere ­erste Finanzierung an Bord. Aber wenn die Sache aufgeht, geht sie richtig auf. Und macht die Welt der Energie ein gutes Stück besser. Und ­fairer. Nicht nur in Europa.