Ausgabe 06/20 -

Nicht Moral predigen, sondern Überzeugungen leben

Unser Leben ist von tiefgreifenden Veränderungen, neuen Herausforderungen und weltanschaulicher Pluralität geprägt. Was ist moralisch gut, was schlecht? Moraltheologe P. Martin M. Lintner, Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, plädiert für eine Ethik, welche die Würde von Mensch und Tier in den Mittelpunkt stellt und zum verantwortungsvollen Handeln aufruft.

Herr Professor Lintner, was ist Moraltheologie? Kann sie den Menschen konkret helfen?
Prof. Martin M. Lintner: Moraltheologie bedeutet Ethik im theologischen Kontext. Sie setzt sich mit den unterschiedlichsten ethischen Fragestellungen auseinander. Auf der einen Seite sucht sie Antworten und begründet sie mit Hilfe der Vernunft und im interdisziplinären Dialog mit den Natur- und Humanwissenschaften sowie mit der Philosophie. Auf der anderen Seite ist sie eingebunden in die kirchliche Tradition: Sie fragt nach der Rolle des Glaubens für die Lebensgestaltung und inwiefern der Glaube eine Quelle für sittliche Einsichten sein kann. Sie will eine Orientierung anbieten und Menschen befähigen, selbstverantwortete sittliche Urteile zu bilden.

Welche Themen beschäftigen Sie zurzeit am meisten?
Eine Vielzahl von Themen: auf der beruflichen Ebene medizin-, umwelt- und tierethische Fragen; auf der persönlichen Ebene die Corona-Krise: Wie gehen wir als Gesellschaft damit um? Welche Konsequenzen werden auf uns zukommen? Was macht diese Gefährdung mit mir persönlich und mit uns als Gesellschaft? Zudem schreibe ich an einem neuen Buch über Beziehungsethik.

Sie haben sich intensiv mit dem Tierwohl beschäftigt…
Ich mag Tiere, sie haben mich von klein auf interessiert und fasziniert. Die ethische Thematik liegt mir wegen des unermesslichen Tierleids am Herzen, das vielerorts mit der Nutztierhaltung verbunden ist. Wir dürfen kein Tier nur auf seinen instrumentellen Nutzen reduzieren, sondern müssen mindestens bereit sein, dessen Grundbedürfnisse zu respektieren.

Auch Brennpunkte wie Klimawandel, Ethik im Gesundheitsbereich u.a. bergen ein enormes Konfliktpotential. Gibt es aus christlicher Perspektive immer ein richtiges oder falsches Verhalten?
Es gibt sicher eine Vielzahl von Situationen, in denen es nicht die eine klare oder einzig gültige Lösung gibt. Es geht oft darum, die bessere unter den möglichen Lösungen herauszuarbeiten, in manchen Situationen sogar nur darum, das geringere Übel zu wählen. Es bleibt auch zu differenzieren, zwischen der prinzipiellen Ebene, auf der es klare Wertepositionen gibt, und der Komplexität von Lebenssituationen, in denen jemand, so gut es möglich ist, nach bestem Wissen und Gewissen eine Entscheidung treffen muss.


Viele Menschen erleben zurzeit große Sorgen und Zukunftsängste. Ist die derzeitige Krise auch ein Test für unsere Solidargemeinschaft?
Ja, durchaus. Als Einzelne sind wir eingebunden in ein weites Netz von persönlichen Beziehungen, darüber hinaus aber auch in eine Gesellschaft, wobei wir unmittelbar und mittelbar alle miteinander vernetzt sind. Alles hängt in irgendeiner Form mit allem zusammen. Das bedeutet, dass das Wohlergehen des Einzelnen auch davon abhängt, ob es der Gemeinschaft als Ganzes gut geht, und dass wir als Einzelne für das Ganze, sprich für das Gemeinwohl, mitverantwortlich sind.


Der Vertrauensverlust der Bürger gegenüber Institutionen wie Staat und Kirche nimmt aber zu. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Ein Grund ist sicher der, dass es in jeder Institution menschliches Fehlverhalten gibt, das dann auf die ganze Institution abfärbt. Auch sind Institutionen oft sehr schwerfällig, besonders dort, wo sie reformbedürftig sind. Ich sehe aber auch das Problem, dass heute zum Teil gezielt durch Des- und Falschinformationen das Vertrauen in Institutionen untergraben wird. Es gibt leider Menschen oder Gruppen, die an sozialer Destabilisierung Interesse haben.

Moral und vorbildliches Verhalten sind auch immer wieder in Zusammenhang mit Politik brisante Themen. Da heißt es oft: Es wird Wasser gepredigt, aber Wein getrunken …
Ohne das Problem zu bagatellisieren: das ist bedauerlich, aber leider auch menschlich. Das bedeutet aber nicht, dass die Ideale und Anliegen, für die sich jemand einsetzt, nicht mehr gelten, selbst wenn er bzw. sie selbst dem nicht entsprechen. Und vor allem soll ich selbst dies nicht zum Vorwand nehmen, es auch so zu machen.

Auch die katholische Kirche ist in den vergangenen Jahren durch die vielen Missbrauchsskandale eher durch unmoralisches Verhalten aufgefallen; wie kann die Kirche ihren eigenen Maßstäben gerecht werden?
Durch den ernsthaften Willen, die Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, den Opfern nach Möglichkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und alles zu tun, um in Zukunft Missbrauch zu verhindern. Dazu gehören auch die entschlossene Analyse und Veränderung von innerkirchlichen systemisch-strukturellen Aspekten.

Weihnachten, das Fest der Liebe, steht vor der Tür. Ist die Weihnachtsbotschaft auch eine Botschaft der Hoffnung?
Weihnachten ist eine Unterbrechung des hektischen Alltags, eine Besinnung auf das, was bzw. wer mir wichtig ist. Wir feiern den Glauben, dass in den Dunkelheiten der Welt und unseres Lebens ein Licht aufstrahlt: die Botschaft eines Gottes, dem wir am Herzen liegen.

Was möchten Sie unseren Lesern und Leserinnen abschließend mit auf den Weg ins neue Jahr geben?
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich viel Kraft für die Bewältigung ihrer Aufgaben und wenigstens eine kleine Freude an jedem Tag, besonders aber Menschen, denen sie vertrauen und die sie mögen. Und Gottes Segen!

ZUR PERSON

P. Martin M. Lintner OSM, 1972 geboren und in Aldein aufgewachsen, Mitglied des Servitenordens, ist seit 2009 Professor für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen. Er unterrichtet auch Ethik im Studium generale an der Freien Universität Bozen. Seit August 2013 ist er Mitglied im Europa-Regional-Komitee der CTEWC (Catholic Theological Ethicists in the World Church). Er war Präsident: von 2013 bis 2015 der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie, von 2014 bis 2017 des Internationalen Netzwerks für Gesellschaften für Katholische Theologie und von 2017 bis 2019 der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Christliche Soziallehre. Lintner ist auch Mitglied des Landesethikkomitees der Autonomen Provinz Bozen und des Klinischen Ethikkomitees Innsbruck.