Ausgabe 03/25 -

Was nun, Herr Wulff?

Beim 24. Anlegersymposium des Raiffeisen InvestmentClubs trat Altbundespräsident Christian Wulff als renommierter Gastredner auf. Im Interview spricht er reflektiert über die Herausforderungen für Europa und die Chancen, die in einem entschlossenen gemeinsamen Handeln liegen.

Die geopolitische Lage weltweit verändert sich rasant – mit neuen Machtzentren und Konflikten. Wie sollte Europa reagieren, um seine Werte und Interessen zu wahren?

Altbundespräsident Christian Wulff: Europa muss seinen inneren Zusammenhalt stärken. Als eigenes Machtzentrum kann es im Wettbewerb mit China, Indien, den USA oder anderen bestehen – aber nur, wenn wir in Europa eng kooperieren und unsere Kräfte bündeln. Europa ist nicht nur eine politische und wirtschaftliche Kraft, sondern ein Wertesystem. Es ist unsere Chance und Pflicht, diese Werte zu verteidigen und für sie einzustehen. Es geht um drei Punkte. Erstens, die gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit zu stärken; zweitens, die wirtschaftliche Souveränität zu steigern; und drittens, unsere Werte – Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – zu verteidigen, gerade weil die USA ins Torkeln geraten.

Die Digitalisierung und der Einfluss sozialer Netzwerke verändern unsere Kommunikation. Sehen Sie darin eher eine Chance oder eine Gefahr für die Demokratie?

Wie bei allen neuen Technologien gibt es zwei Seiten. Noch nie war Kommunikation so vielfältig, leicht und schnell, doch die Gefahren sozialer Medien sind noch nicht in ihrer Gänze erfasst. Besonders junge Menschen sind ungeschützt Risiken ausgesetzt – das müssen wir ändern. In der analogen Welt regeln Gesetze das Zusammenleben und das Gleiche muss auch für den digitalen Raum gelten. Digitale Medien erleichtern es antidemokratischen Kräften, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen und Hass sowie Hetze zu verbreiten. Algorithmen konzentrieren negative Nachrichten und fördern digitalen Populismus – dem müssen wir uns entgegenstellen.


Stichwort EU-Erweiterung: Sollte die EU in den kommenden Jahren neue Mitglieder aufnehmen, und welche Bedingungen sollten dafür gelten?

Die Kopenhagener Kriterien legen deutlich und klar fest, wer in die EU aufgenommen werden kann. Perspektivisch ist das Ziel, dass sich die EU insbesondere um den Balkan erweitert. Darin stecken große Wachstumsperspektiven, wie die Erweiterungen 2004 und 2007 gezeigt haben. Dabei muss immer Prinzipienfestigkeit gelten.

 

Muss Europa in seiner Verteidigung unabhängiger von den USA werden, und braucht es dazu eine eigenständige europäische Armee?

Angesichts des russischen Angriffskriegs sowie des schwindenden verteidigungspolitischen Engagements Amerikas muss Europa seine eigene Verteidigung unabhängiger gestalten. Die amerikanischen Sicherheitsgarantien sind historisch gewachsen, wurden aber zu lange als selbstverständlich wahrgenommen. Ein stärkeres europäisches Standbein innerhalb des NATO-Bündnisses ist essenziell. Eine europäische Armee ist eine wünschenswerte Zukunftsidee, aber noch nicht realistisch. Vorrangig müssen Synergien bei Produktion und Beschaffung geschaffen, Hürden minimiert und die Kooperation optimiert werden, um schnell eine größere Schlagkraft herzustellen.


In vielen europäischen Ländern gewinnen rechtspopulistische Parteien an Einfluss. Wie groß ist die Gefahr für die Demokratien in Europa?

Ich bin besorgt. Wir erleben einen Trend zum Autoritären und zu vermeintlich einfachen nationalistischen Lösungen. Die Gefahr besteht darin, dass antidemokratische Kräfte mit demokratischen Mitteln den liberalen Rechtsstaat aushöhlen, um ihre demokratiefeindliche Agenda durchzusetzen. Die Kraft der Demokratinnen und Demokraten besteht darin, auch in Friedenszeiten aktiv für die Demokratie einzutreten und zu handeln: gegen die Feinde der Demokratie aufzubegehren, die Stimme zu erheben, Menschen einzubeziehen statt auszugrenzen und an einer Zukunftsagenda gemeinsam mitzuwirken.

Die Migrationsdebatte und Asylpolitik spalten Politiker und Menschen in vielen europäischen Ländern. Was braucht es, um den Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft zu stärken?

Es braucht eine positive Sicht und entschlossenes Handeln gegen jegliche Illegalität, im Interesse aller. Vielfalt ist eine Kraft in der Gesellschaft. Studien zeigen, dass Unternehmen und Zivilgesellschaften resilienter und erfolgreicher sind, wenn sie divers sind. Dort, wo unterschiedliche Ideen, Kulturen, Herkünfte und Erfahrungen zusammenkommen, kann Neues besser entstehen. Vielfalt ist nicht einfach, aber das Gegenteil ist Einfalt – und wer will schon einfältig sein? Recht und Ordnung müssen auf Basis unseres Grundgesetzes durchgesetzt werden, ohne Wenn und Aber. Den Zusammenhalt stärken wir, indem wir neugierig aufeinander bleiben, voneinander lernen wollen und uns bemühen, aufeinander zuzugehen.


Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte. Welche politischen Reformen halten Sie für notwendig, um ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern?

Vetorechte müssen reduziert werden. Einer darf nicht länger den ganzen Betrieb aufhalten. Gerade in Krisenzeiten ist entschlossenes Handeln nötig. Auch die Stärkung von Rechtsstaatsmechanismen steht zur Diskussion. Die EU braucht mutige Reformen, damit sie effizienter und zugleich widerstandsfähiger wird.

 

Wie kann sich Europa – auch angesichts der neuen Zollpolitik Donald Trumps – als erfolgreicher Wirtschaftsstandort behaupten? Welche Maßnahmen braucht die Wirtschaft?

Erratisch getroffene, nicht durchdachte Entscheidungen haben negative Folgen für alle Handelspartner und auch für die USA selbst. Die EU muss nun geschlossen auftreten. Mit 450 Millionen Verbraucher*innen verfügt sie über den weltgrößten Binnenmarkt, der längst um Japan, Südkorea und viele andere Partner erweitert wurde. Europäische Einigkeit ist unsere größte Stärke. Die Politik muss weiterhin ein Klima des Vertrauens und der Kalkulierbarkeit schaffen, damit langfristig geplant, investiert und umgesetzt werden kann.

 

Wenn Sie einen Appell an Politik und Gesellschaft richten könnten: Was wäre Ihre wichtigste Botschaft für eine gute Zukunft?

Mein Appell ist, dass sich alle einbringen und den Austausch suchen. Mut haben, die Zukunft mitzugestalten. Das erfordert die Bereitschaft, nicht nur das eigene Wohlbefinden zu sichern, sondern sich für Übergeordnetes einzusetzen. Wenn wir uns mit Empathie für unsere Mitmenschen und unsere Umgebung interessieren und einsetzen, leisten wir einen wichtigen Beitrag – für unsere Demokratie, unser Miteinander und eine gute Zukunft.

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