Ausgabe 02/18 -

Raiffeisen – Eine Idee erobert die Welt

Friedrich Wilhelm Raiffeisen war einer der großen Sozialreformer des 19. Jahrhunderts und prägte wie kaum ein anderer die Genossenschaftsidee. 2018 jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal. Wer war der Mann, und sind seine Ideen heute noch aktuell?

Die europaweite Missernte von 1846 trifft auch den Ort Weyerbusch im deutschen Westerwald hart.

Ein Hungerwinter droht …

Die Menschen leben von der Hand in den Mund, sie besitzen weder Vorräte noch Geld. Als der neue Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen sich selbst ein Bild von den Zuständen macht, ist er entsetzt. Bei den Ärmsten kommt Zichorie mit gemahlener Baumrinde, ein übel­riechender Brei, auf den Tisch. Raiffeisen, gerade mal 27 Jahre alt, will der Not und Resignation, die er vorfindet, etwas entgegensetzen. So organisiert er von der staatlichen Notstandshilfe Mehl, das allerdings nur gegen Barzahlung verkauft werden darf. Wiederum trifft es die Ärmsten. Was tun? Raiffeisen findet einen Weg, mobilisiert wohlhabende Bürger und gründet eine Armenkommission, den „Weyerbuscher Brodverein“. Seine Idee: Der Verein schießt das Geld für den Kauf von Mehl vor. Aus dem Mehl wird Brot gebacken und gegen Schuldscheine mit geringen Rückzahlungszinsen an die Notleidenden verteilt.

Von höherer Stelle droht dem jungen Bürgermeister aber Ungemach, sollte das Vorgehen der Gemeinde schaden. Raiffeisen lässt sich aber nicht beirren. Der gemeinschaftliche Zusammenschluss verteilt bald nicht nur Lebensmittel, sondern organisiert auch billiges Saatgut sowie Kartoffeln und leitet den Bau eines Gemeindebackhauses ein, in dem Brot zum halben Preis hergestellt wird. Wer das Brot trotzdem nicht bezahlen kann, erhält es gegen einen Schuldschein. Das Backhaus, das heute noch in Weyerbusch steht, gilt als Symbol der organisierten Selbsthilfe und steht für den Beginn der genossenschaftlichen Arbeit Raiff­eisens, der wie kaum ein anderer die Genossenschaftsidee geprägt hat. Sein Motto „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“ wurde weltweit zur Erfolgsgeschichte.


Weltweite Erfolgsgeschichte

Heute gibt es in mehr als 100 Ländern Genossenschaften verschiedener Art mit einer Milliarde Mitgliedern und mehr als 250 Millionen Beschäftigten. Ende 2016 wurde die Genossenschaftsidee von der UNESCO in die Liste des ­Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. „Damit wird international anerkannt, dass Genossenschaften zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen beitragen“, sagt Paul Gasser, Generaldirektor des Raiffeisenverbandes Südtirol. ­Raiffeisens Idee fiel auch hierzulande schnell auf einen fruchtbaren Boden. In Südtirol waren Ende 2016 1.031 ­Genossenschaften mit rund 165.000 Mitgliedern registriert, Tendenz ­steigend. Über 300 Genossenschaften sind im Raiffeisenverband organisiert, viele sind mit Südtiroler Vorzeigeprodukten wie Wein, Milch oder Äpfeln sowie innovativen Produkten auch international erfolgreich. Aber was macht ­Raiffeisens Idee aus, und wie entwickelte sie sich?

Kern der Genossenschafts­idee ist die Bündelung der Kräfte.
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Raiffeisen Genossenschaft gebuendelte Kraft Shutterstock

Hilfe zur Selbsthilfe

Geboren wird Friedrich Wilhelm Raiffeisen am 30. März 1818 in Hamm an der Sieg im ehemaligen Preußen. Seine Kindheit ist von einem starken Gottesglauben, einer christlichen Erziehung und von Geldnöten geprägt, eine höhere Schulbildung ist nicht finanzierbar. Vom örtlichen Pfarrer erhält er nach der Volksschule Unterricht in neueren Sprachen, Geschichte und Mathematik. Mit 17 meldet er sich freiwillig zum Militär. Aufgrund eines Augenleidens quittiert er den Militärdienst, wechselt 1843 in die zivile Verwaltung und engagiert sich bald für die arme Landbevölkerung. Nach seinen Erfahrungen in Weyerbusch wird Raiffeisen 1848 Bürger­meister von Flammersfeld. Während Europa von ­sozialen, politischen und wirtschaftlichen Spannungen gebeutelt wird, gründet Raiffeisen 1849 mit wohlhabenden Bauern den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“.

Der Verein ermöglicht es Bauern, ihr Vieh, das sie an rücksichtslose Wucherer verpfändet hatten, zurückzukaufen. Es ist der erste Verein in Deutschland mit Solidarhaftung und die erste Form der Darlehenskasse, die heute unter dem Namen Raiffeisen bekannt ist. Zufrieden ist Raiffeisen damit aber nicht. Er erkennt, dass Wohltätigkeit und christliche Nächstenliebe keine nachhaltige Grundlage für seine Vereine bieten. So legt er den Schwerpunkt stärker auf die genossenschaftliche Selbsthilfe, auf die Bündelung der Kräfte zum Wohle aller, und kurbelt die Produktivkräfte der neuen Zeit an, die mit der Industrialisierung eingeläutet wird. Dazu benötigte es aber „Geld und die Kenntnisse, solches möglichst nutzbar anzuwenden“, so Raiffeisen in seinem 1866 erschienenen Hauptwerk „Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“.


Erster Darlehenskassenverein

Seine Aufgabe sah er darin, das Geld zu organisieren. 1862 hebt Raiffeisen deshalb den ersten Darlehenskassenverein aus der Taufe, bei dem Kreditnehmer erstmals zur Mitgliedschaft verpflichtet werden und das heute als Modell für die späteren Genossenschaften Raiffeisen’scher Prägung gilt. Die Vereinsmitglieder zahlen keine Einlagen und müssen auch keine Geschäftsanteile erwerben. Die Finanzierung der Darlehenskassen erfolgt stattdessen über die Aufnahme von Anleihen gegen die solidarische Haftung der Mitglieder. Jeder hat eine Stimme, unabhängig von seinem Vermögen. Kapitalspekulation lehnt Raiffeisen ab, die Tätigkeit der Genossenschaft ist auf ein überschaubares Gebiet beschränkt, um die lokalen Kreisläufe zu stärken.
Seine Erfahrungen als Bürgermeister im Westerwald hatten ihm außerdem gezeigt, wie wichtig ein funktionierender Finanzmarkt für Wachstum und Wohlstand ist. So gründet Raiffeisen 1872 die Rheinische Landwirtschaftliche Genossenschaftsbank, eine zentrale Stelle, die den Liquiditätsausgleich zwischen den kleinen Darlehenskassen organisiert. Damit kann das Geld von denjenigen, die es gerade nicht benötigen, zu denjenigen fließen, die es sinnvoll und produktiv einsetzen können.


Friedrich Wilhelm Raiffeisen

Begründer der Genossenschafts­idee:­

Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 – 1888)

Fit für die Zukunft

Raiffeisen hat die Kraft des Kapitals erkannt und einen Weg gefunden, sie in den Dienst der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu stellen. Aber sind seine Ideen in einer immer komplexer werdenden Welt noch aktuell?
„Anstand, Fairness und Solidarität sind jene ­Werte, die gerade für junge Menschen bedeutsam sind“, ist Werner Böhmke, Vorsitzender der Deutschen Raiffeisen-Gesellschaft, überzeugt. Außerdem werden lokale Kreisläufe seit der Finanz­marktkrise immer bedeutsamer. „­Menschen wollen in Angelegenheiten, die ihnen wichtig sind, nicht anonymen und entfernten Akteuren und Organisationen ausgeliefert sein“, weiß Theresia Theurl, Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen an der Universität ­Münster. Während der Finanzmarktkrise ­nahmen die Neugründungen von Genossen­schaften zum Beispiel in Deutschland deutlich zu. Diese fanden weniger in den traditionellen Genossenschaftsbranchen statt als vielmehr in Branchen, die expandieren und zukunfts­orientiert sind.

Studien zeigen überdies, dass das genossenschaftliche Kooperationsmodell vor allem dort als wettbewerbsfähig eingeschätzt wird, wo sich neue Herausforderungen zeigen. So wie etwa im wachsenden Gesundheits- und Sozialbereich, in dem Genossenschaften gewisse Leistungen mit weniger Aufwand als die ­öffent­liche Hand erbringen können.

Für Susanne Elsen, Professorin für nachhaltige Entwicklung an der Freien Universität Bozen, sind Genossenschaften als Organisationsform kein Auslaufmodell, im Gegenteil.­ „Raiffeisen würde heute Genossenschaften zur Nahraum­versorgung, Seniorengenossenschaften und Gemeindegenossenschaften gründen, die das Zusammenleben der Menschen vor Ort ermöglichen“, so Elsen. Und Expertin Theurl weiß: Unternehmen und Organisationen gründen heute Allianzen, Netzwerke und Partner­schaften, die als innovativ gefeiert werden. Dabei über­nehmen sie nichts anderes als wesentliche Elemente des genossenschaftlichen Geschäftsmodells.

Genossenschaftsbanken wie die Raiffeisenkassen sind heute starke und moderne Finanzdienstleister. Zu ihren Prinzipien gehören Kundennähe, lokale Verankerung sowie die Verbindung von genossenschaftlichen Werten mit unternehmerischem Denken.
Kundennähe und Beratung in der Raiffeisenkasse

Neue Perspektiven

Raiffeisen hat das Genossenschaftswesen mit seinen Ideen stark geprägt. Für seine Verdienste ernannte ihn Kaiser Wilhelm I. 1884 zum Ritter des Adlerordens. Noch bevor er die Ehrendoktorwürde der Universität Bonn erhalten sollte, starb Raiffeisen am 11. März 1888 in Heddesdorf. Dort hatte er als Bürgermeister in den 1850er-Jahren die Folgen der industriellen Revolution hautnah miterlebt. Viele Industriearbeiter mussten nach einem zwölfstündigen Arbeitstag in der Fabrik noch ihre kleine Landwirtschaft ver­sorgen, um ihre Familien zu ernähren. Dennoch waren sie häufig überschuldet und skrupellosen Geld­verleihern ausgeliefert. Raiffeisen ­schaute wiederum nicht tatenlos zu: Mit einem neu geschaffenen Wohltätigkeitsverein verteilte er aber keine ­Almosen, sondern leistete mit ­günstigen Krediten Hilfe zur Selbsthilfe und gab den ­Menschen eine neue Perspektive. Das tut er bis heute.

RAIFFEISEN-GENOSSENSCHAFT – Nahe sein, lokal agieren

Wie Christina Pupp, Direktorin der Raiffeisenkasse Wipptal, die Idee Raiffeisens jungen Menschen näherbringt.

Der Name Friedrich Wilhelm Raiffeisen steht wie kein anderer für Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Sind seine Ideen heute noch aktuell?
Christina Pupp: Es gibt nicht viele große Ideen wie jene von Raiffeisen, die Generationen überdauern. Besonders in Krisenzeiten sind meiner Erfahrung nach Genossenschaften sehr gefragt. Dann sind Selbstverwaltung, Selbsthilfe und Selbstverantwortung aktueller denn je. Sie sind das ideale Mittel, um wirtschaftliche und soziale Probleme zu lösen, weil sie die Be­troffenen selbst mit einbeziehen.

 

Wie erklären Sie einem Grundschüler das Besondere an der Idee Raiffeisens?
Christina Pupp: Die Idee Friedrich Wilhelm Raiffeisens lässt sich in einem sehr einfachen Satz zusammenfassen: Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele. Das verstehen schon Grundschüler.

Was fasziniert Sie persönlich am meisten an der Figur Friedrich Wilhelm Raiffeisens?
Christina Pupp: Seine Bescheidenheit und sein Engagement. Entgegen der allgemeinen resignativen Haltung der damaligen Zeit ist er die Probleme aktiv angegangen. Er hat Betroffene, die sich in Schwierigkeiten befanden, zu Beteiligten gemacht, um Probleme gemeinsam zu lösen.

 

Wie gehen Sie als Raiffeisenkasse mit dem Erbe Raiffeisens konkret um?
Christina Pupp: Wichtig sind uns die Nähe zu den Menschen und die Verbundenheit zur Region, dem Wipptal. Wir versuchen gemeinsam mit ­unseren Mitgliedern Lösungen zu suchen, die nicht nur dem ­einzelnen Menschen helfen, sondern der ­Gesamtheit zugute­kommen.

Wie kann man jungen Menschen und Gründern das Modell Genossenschaft näherbringen?
Christina Pupp: Wir arbeiten viel mit Oberschulen zusammen, und da habe ich gemerkt, dass Werte wie Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Verlässlichkeit jungen Menschen immer wichtiger werden. Genauso wie die soziale Dimension des Wirtschaftlichen: Den jungen Leuten von heute sagt das knallharte Gewinnstreben der Aktiengesellschaften wenig. Vielmehr ­schätzen sie Genossenschaften, die nahe bei ihnen sind, lokal ­agieren und mit denen sie langfristige ­Beziehungen eingehen können.