Ausgabe 02/20 -

Europäische Zentralbank: Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Nach Jahren der Niedrigzinspolitik will die Europäische Zentralbank (EZB) ihre geldpolitischen Maßnahmen auf den Prüfstand stellen und neu ausrichten. Ist damit die Zeit des billigen Geldes vorbei? Wir haben bei Martin von Malfèr, Finanzexperte der Raiffeisen Landesbank Südtirol, nachgefragt.

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Herr von Malfèr, die neue EZB-Chefin Christine Lagarde will die Geldpolitik neu ausrichten und dabei „jeden Stein“ umdrehen. Was heißt das genau? Martin von Malfèr: Lagarde hat weniger die Zins- oder Geldpolitik im Fokus, sondern will die EZB „grüner“ machen, sprich die europäische Wirtschaft über Banken zu nachhaltigerem Handeln bewegen. Die EZB ist heute einer der größten Hedgefonds der Welt. Sie ist vollgesogen mit Staatsanleihen und Krediten gegenüber Banken, die zwar besichert sind, doch jede Besicherung hängt vom Stand der Kapitalmärkte ab. Hebt die EZB die Preise für Kredite, sprich den Leitzins an, dann hat dies Auswirkungen auf die Preise von Staatsanleihen und das Zinsniveau im Allgemeinen. Dadurch aber riskiert sie selbst in ihrer Bilanz Abwertungen in ungeheurem Ausmaß.

Was fürchtet die EZB noch?

Angesichts des fragilen Umfeldes fürchtet sich die EZB vor allem vor einer Neubewertung der Finanzmärkte wie die derzeitige Situation in der Corona-Krise klar vor Augen führt. Daran hängen heute nicht nur die Stabilität des Finanzmarktes und des Bankensystems, sondern in vielen europäischen Ländern auch die Vor- oder Zusatzvorsorge ganzer Bevöl­kerungs­schichten. Einbrechende Finanzmärkte haben generell verheerende Auswirkungen auf die Realwirtschaft oder erschweren eine wirtschaftliche Erholung, das wohl größte Problem in der Gegenwart. Ein weiteres großes Problem der EZB ist es, dass der Kapitalmarkt heute global und enorm ist, sie aber nur einen Teil des Systems in Europa unter Aufsicht hat. Banken sind heute nur für etwa die Hälfte der Geld­mengen­schaffung in Europa zuständig. Der Rest wird von speziellen Investmentfirmen übernommen, die sich zum Teil jeder Regulierung entziehen und oft auf exotischen Ferieninseln domiziliert sind. Auch die derzeitige Bazooka der EZB mit dem 750 Mrd. Euro Ankaufprogramm von Staatsanleihen, so gewaltig dies auch erscheinen mag, ändert daran nur wenig.

Experten streiten sich darüber, ob es der EZB mit Hilfe von Niedrigzinsen und milliardenschweren Anleihekäufen gelungen ist, die Preise und die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Was meinen Sie?

Die EZB hat die statutarische Aufgabe, die Inflation, also die Preisentwicklung von Konsumgütern, zu steuern. Dafür hat sie aber nur zwei Instrumente zur Verfügung: die Leitzinspolitik und die Geldmengenpolitik. Dahinter steht die Theorie, dass niedrige Zinsen oder eine expansive Geldpolitik die Wirtschaft anschiebt, und somit auch die Preise auf Konsumgüter nach oben gehen lässt, was wiederum der Wirtschaft guttut. Wir leben derzeit aber in einer globalen Welt, wo Preise von materiellen Konsumgütern der internationalen Konkurrenz ausgeliefert sind, immer mehr Menschen Waren über das Internet kaufen und ein niederes Zinsniveau nicht unbedingt dazu führt, dass Konsumenten mehr ausgeben. Die Niedrigzinspolitik stimuliert in erster Linie nur die Preisinflation an den Finanz- und zum Teil Immobilienmärkten der Welt. Sie schafft Liquidität, vielfach sogar außerhalb von Europa, was unser Zinsniveau noch einmal senkt. Zudem konnten sich viele europäische Staaten, trotz der Maßnahmen der EZB, zu keinen wirksamen Strukturreformen durchringen. Für den Euroraum kann das langfristig nichts Gutes bedeuten. Nebenbei sieht sich die EZB als Schutzmacht des Euro. Fürchtet sie eine Eurokrise bzw. eine Staatsschuldenkrise eines Eurolandes, wie derzeit aufgrund der COVID-19-Pandemie, ist sie zu allem bereit, um dieser entgegen­zuwirken.


Viele Banken, darunter die deutschen Sparkassen, fordern ein Ende der Nullzinspolitik, damit sich Sparen und Vorsorge wieder lohnen.

Die derzeitige Zinssituation wirkt sich negativ auf die Ertragsmöglichkeiten der Banken aus. Dies zwingt sie oft dazu, Kosten zu sparen, sprich Filialen zu schließen und Personal abzubauen, um noch annehmbare Ergebnisse auszuweisen. Der Ruf nach höheren Zinsen, nach „Sparen muss sich lohnen“, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Sparkapital ist heute in der Eurozone im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistung eher zu viel vorhanden, d.h. man muss keine zusätzlichen Anreize zum Sparen schaffen. Das Problem ist eher, dass heute die Gesellschaft auseinanderdriftet und der Großteil des Spar­kapitals in den Händen von Wenigen liegt.

Immer öfter ist von „Negativzinsen“ die Rede. Werden auch die Südtiroler Sparer bald mit diesem Schreckgespenst konfrontiert?

Negativzinsen auf Einlagen zu erheben ist eine extrem unpopuläre Maßnahme, in Deutschland aber schon länger Realität. Dazu muss man wissen: Selbst wenn Banken Null Zinsen auf Einlagen zahlen und diese bei der EZB hinterlegen, zahlen sie Strafzinsen von minus 0,5 % auf diese Einlagen. Die EZB will mit dieser Maßnahme alles daransetzen, dass Banken keine Liquidität horten, sondern diese in den Wirtschaftskreislauf zurück­pumpen. In Italien waren Banken bisher von der Notwendigkeit, Negativzinsen zu erheben, entbunden, da sie genügend Erträge über italienische Staatsanleihen lukrierten. Jetzt wird das Umfeld auch in Italien enger und Großbanken wie Unicredit haben angekündigt, Negativzinsen auf Einlagen von über 100.000 Euro einzuführen. Ich würde es auf keinen Fall ausschließen, dass es eines Tages auch in Südtirol zu Negativzinsen auf Einlagen kommen wird. Aber ich glaube, das wird nur dann passieren, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die Ertragskraft der Banken, welche ihre Solidität sicherstellt, zu halten.