Ausgabe 06/14 -

Ein Modell mit Tradition und Zukunft

Vor 125 Jahren wurde die erste Raiffeisenkasse auf Südtiroler Boden gegründet. Hilfe zur Selbsthilfe und Solidarität standen damals im Vordergrund. Diese und andere Werte haben auch heute noch Gültigkeit und haben die Raiffeisenkassen zu den lokalen Marktführern gemacht.

Pfarrer Josef Dasser war offensichtlich ein geschätzter Mann. Die Menschen glaubten ihm. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass die Menschen in Welschellen ihm ihre Ersparnisse anvertrauten. Ihm und dem Sparund Darlehenskassen-Verein, den er in dem kleinen Gadertaler Ort vor 125 Jahren gegründet hatte. Hier entstand die erste Raiffeisenkasse auf Südtiroler Boden. Mit der Gründung wurde das genossenschaftliche Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe umgesetzt und war damals konkret die einzige Antwort für den Erhalt der Besitztümer und gegen die Wucherei städtischer Händler. Die Gründer gingen damit ein großes Risiko ein: Zahlmeister Dasser, der Obmann des Vereins, und die vier Vorstandsmitglieder hafteten damals noch in unbeschränkter Solidarhaftung für das Geld.

Foto: Pfarrer Josef Dasser (1845–1926)
Gründer des ersten Spar- und Darlehenskassen- Vereins in Südtirol im Jahre 1889 und jenes von Vierschach im Jahre 1893.

Raiffeisengruender-Dasser-Innenteil

SCHWIERIGE ZEITEN

Die Idee der Spar- und Darlehenskassen-Vereine fand viele Nachahmer. 1900 gab es schon deren 86 in Tirol. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen brachten viele Kassen in große Schwierigkeiten, ihre Zahl konnte aber gehalten werden. 1925 gab es schon 135 Raiffeisenkassen. Schlimmer waren die Auswirkungen des Faschismus, der Option und der Weltwirtschaftskrise. Im Jahrzehnt von 1934 bis 1944 gingen 58 Prozent der Raiffeisenkassen in Liquidation. 1945 waren 55 Kassen übrig geblieben, die aber in den folgenden Jahren einen Aufschwung erleben sollten, der bis heute anhält. Parallel zu den Raiffeisenkassen entstand 1891 der „Anwaltschaftsverband der deutschtirolischen Spar- und Darlehenskassen-Vereine“, später übernahm die im Dezember 1894 gegründete Zentralkasse der Raiffeisen-Vereine Deutschtirols die Revision und alle übrigen anwaltschaftlichen Befugnisse.

1919 wurde der Revisionsverband der Südtiroler Genossenschaften gegründet, der 1936 seine Tätigkeit einstellen musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der Verband der Raiffeisenkassen (1946) und der Landesverband der Südtiroler landwirtschaftlichen Genossenschaften (1954) gegründet, die sich 1960 zum Raiffeisenverband Südtirol zusammenschlossen. Die Überwachungshoheit über die im Lande arbeitenden Genossenschaften, also auch die Raiffeisenkassen, hat die Region Trentino-Südtirol, die diese Zuständigkeit dem Raiffeisenverband Südtirol übertragen hat. Dieser ist Interessenverband für die angeschlossenen Genossenschaften auf dem Gebiet der Förderung, Betreuung, Beratung und Vertretung derselben sowie Revisionsorgan wie auch Berater in allen banktechnischen und bankwirtschaftlichen Angelegenheiten.


RAIFFEISEN HEUTE

Die einzelnen Raiffeisenkassen sind als Genossenschaftsbanken dem Raiffeisenverband Südtirol angeschlossen, der aktuell 370 Mitgliedsgenossenschaften der verschiedensten Sparten (Obst, Wein, Milch, Energie, Wasser, Wohnbau, Sozial, Bezug, Konsum usw.) und Mitgliedskörperschaften zählt. Gemeinsam mit der Raiffeisen Landesbank Südtirol AG stellen sie mit rund 47 % bei den vergebenen Krediten und bei den Einlagen fast die Hälfte der Marktanteile in Südtirol. Für die Zukunft gilt es unter vielen Themenfeldern auch die folgenden Herausforderungen zu meistern: Internet und neue Kanäle der Kommunikation, die die Raiffeisenkassen ihren Kunden zur Verfügung stellen, und die eine wesentliche Änderung des Bankgeschäftes mit sich bringen dürften. Zweitens den niedrigen Referenzzinssatz der Europäischen Zentralbank, der sich auf die Zins- und Rentabilitätsgestaltung der Banken auswirkt. Und schließlich die sehr umfangreichen Regulatorien, die durch die europäische Bankenunion auf die Raiffeisenkassen zukommen, mit all ihren bürokratischen Auflagen.

TRADITIONELL & INNOVATIV

Raiffeisen versucht heute, traditionelle genossenschaftliche Grundwerte mit einem innovativen unternehmerischen Denken und Handeln sinnvoll zu verbinden und das genossenschaftliche Prinzip den jeweiligen Erfordernissen der Zeit anzupassen. „Es ist gelungen, ein bewährtes Geschäftsmodell stets weiterzuentwickeln und auf die Bedürfnisse der Menschen im Tätigkeitsgebiet auszurichten“, meint Heiner Nicolussi- Leck, Obmann des Raiffeisenverbandes. Der Erfolg der Raiffeisenkassen beruht heute nicht in erster Linie nur auf ihrer ökonomischen Schlagkraft. „Sondern in der Kraft und Stärke aus der Gemeinschaft, der Nähe zu Mitgliedern und Kunden, gepaart mit Verlässlichkeit und Kompetenz und mit einer zeitgemäßen Form der Mitbestimmung und Mitverantwortung“, meint Generaldirektor Paul Gasser.

Foto: Finanzieren, Absichern, Vorsorgen:
Die Raiffeisenkassen sind heute wichtige Begleiter in allen Lebensphasen.
Raiffeisenkasse-Heute

ÜBER 59.000 MITGLIEDER

Die Raiffeisenkasse Welschellen gibt es heute nicht mehr. 1942 wurde sie, nachdem sie einen Verlust von 1.249 Lire (heute etwa 2.800 Euro) ausgewiesen hatte, aufgelöst. Die Idee der Sparund Darlehenskassenvereine aber hat überlebt und steht heute außerordentlich gut da:

  • 47 Raiffeisenkassen gibt es in Südtirol,
  • mit über 190 Filialen und über 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
  • Das Bruttovolumen der von den Raiffeisenkassen (inkl. Raiffeisen Landesbank) vergebenen Kredite beträgt rund 9.617 Mio. Euro,
  • die direkten Kundeneinlagen 9.971 Mio. Euro,
  • das Kundengeschäftsvolumen 21.611 Mio. Euro und
  • das bilanzielle Eigenkapital 2.123 Mio. Euro.
Ihr Ansprechpartner
in Ihrer Raiffeisenkasse

59.000 Mitglieder tragen die Raiffeisenkassen, wenn sie auch heute längst nicht mehr mit ihrem Privatvermögen für die Bank haften, so wie das früher der Fall war. 1889, als die erste Raiffeisenkasse Südtirols gegründet wurde, waren die Hauptaufgaben Einlagen sammeln und Kredite vergeben. Diese beiden Dienste erledigen die Raiffeisenkassen im Lande auch heute noch, dazu kommen aber noch viele weitere Aufgaben in den Bereichen Sparen, Finanzieren, Absichern, Vorsorgen und Anlegen.

„Eine Denkhaltung, die tief verwurzelt ist“

Anton Josef Kosta, Direktor der Raiffeisenkasse Bruneck und Präsident der Geschäftsführer-Vereinigung der Südtiroler Raiffeisenkassen

Herr Kosta, was unterscheidet eine Raiffeisenkasse heute von einem „Spar- und Darlehenskassenverein“ aus der Gründerzeit?

Anton Josef Kosta: Die Grundidee der Genossenschaftsbank hat sich in den 125 Jahren ihres Bestehens nicht geändert. Es ist nicht nur ein Geschäftsmodell, es ist eine Denkhaltung, die tief verwurzelt ist. Natürlich hat sich das Bankenwesen geändert. Wir haben die Veränderung mit vorangetrieben und mitgestaltet, aber die Ideen F. W. Raiffeisens bilden noch immer die Grundlage unseres Handelns.

 

Was würden Sie als das „ Erfolgsgeheimnis“ der Raiffeisenkassen bezeichnen?

Die Verwurzelung. Wir wissen, für was und für wen wir arbeiten. Wir arbeiten für unsere Mitglieder und unser Gebiet, wir gestalten die Entwicklung vor Ort aktiv mit. Wir wissen, was mit den uns anvertrauten Geldern passiert. Wir arbeiten nicht für unbekannte Aktionäre, für die maximale Gewinne wichtig sind. Unsere Entscheidungen werden vor Ort für die Menschen vor Ort getroffen.

Im Internet gibt es immer mehr Bankmöglichkeiten. Sind Geschäftsstellen vor Ort trotzdem wichtig?

Natürlich müssen wir den Kunden immer mehr Möglichkeiten bieten, mit uns orts- und zeitunabhängig in Kontakt zu treten. Aber im Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns steht der Mensch und deswegen ist es wichtig, bei den Menschen zu sein. Unsere Mitglieder und Kunden spüren das und fühlen sich genau deshalb wohl.

 

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Raiffeisenkassen heute?

Die Herausforderungen sind vor allem die Veränderung in der Gesellschaft, die Neuausrichtung der Politik, die Veränderungen im Leben eines jeden Einzelnen. Die Energiewende, die digitale Welt, die Veränderung in der Kommunikation und daraus folgend der tägliche Umgang untereinander. Um darauf richtig zu reagieren, brauchen wir drei Tugenden, die uns der Hl. Benedikt schon vor Jahrhunderten empfohlen hat: Demut im Alltag, Dankbarkeit im Leben und Arbeiten, und vor allem die heitere Gelassenheit. Nur so werden wir erfolgreich bleiben, als Bank als auch als Mensch.