Ausgabe 02/17 -

Jungen Menschen eine Perspektive geben

Ruthild Heimann ist Ergotherapeutin in einer integrativen Wohngemeinschaft im Südtiroler Kinderdorf. Seit Jahren begleitet sie Jugendliche mit psychischen oder familiären Schwierigkeiten auf dem Weg in die berufliche Selbständigkeit.
Wie dies konkret vor sich geht, erzählt sie hier.

Frau Heimann, Sie sind als Ergotherapeutin im Südtiroler Kinderdorf tätig. Erklären Sie uns das bitte genauer …
Ruthild Heimann: Ich arbeite hier im ­Südtiroler Kinderdorf in Brixen in einer integrativen Jugend­wohngemeinschaft. Derzeit sind hier acht Jugendliche mit teils psychiatrischen Diagnosen (wie z. B. Hyperaktivität, Borderline, Depressionen, Suizidgefährdung u. a. m.) und familiären oder schulischen Problemen untergebracht. Den Jugendlichen steht ein multidisziplinäres Team aus (Sozial-)Pädagoginnen, Sozialarbeiterinnen, einer Psychologin und zwei therapeutischen Fachkräften zur Seite, die sie im Alltag begleiten. Außerdem ist eine Kinder- und Jugendpsychia­terin beratend in den Ablauf involviert.


Worum geht es bei der Ergotherapie?
Ruthild Heimann: Es geht ums Tun. Wir stellen verschiedene Angebote, Maßnahmen und Formen der frühzeitigen Unterstützung, Begleitung und Beratung für Jugendliche bereit, und zwar in den Bereichen Ausbildung, Schule, Arbeit, Freizeit und im kreativen Bereich. Unser ganzes Tun versteht sich als Prozess, an dem die Jugendlichen aktiv und partizipativ mitgestalten können und sollen.

Welches ist das vorrangige Ziel dabei?
Ruthild Heimann: Ziel unserer Arbeit ist die berufliche, soziale und gesellschaftliche Integration junger Menschen, die aufgrund ihrer familiären Situation oder gesundheitlicher Faktoren benachteiligt sind und sich deshalb viel schwerer tun als andere. Die Betreuung im Kinderdorf ist vielfach Alltagsbegleitung, bei der die Fähigkeiten gefordert und gefördert werden, die es für den Alltag und für das Leben in Selbständigkeit braucht. Wir unterstützen und begleiten Projekte, die jungen Menschen Chancen geben und Perspektiven eröffnen. Im Zentrum dabei steht die individuelle Bedarfslage der Jugendlichen.

Wie gestaltet sich der Kontakt mit der realen Arbeitswelt?
Ruthild Heimann: Das Südtiroler Kinderdorf sucht den Kontakt mit Betrieben und Einrichtun­gen, die Jugendlichen in Form von Praktika – auch unentgeltlichen – die Möglichkeit bieten, in die reale Arbeitswelt hineinzuschnuppern. Bei unseren Jugendlichen handelt es sich öfter auch um Schulabbrecher, die aber – wenn sie sich erst einmal in der Arbeitswelt bewegen – erstaunlich schnell große Entwicklungsschritte machen. Der konkrete Arbeitsplatz zeigt eben am besten auf, wofür der Junge oder das Mädchen Talent, Fähigkeiten und Freude hat. Über die berufliche Tätigkeit erfahren Jugendliche wieder Selbstvertrauen und letztlich auch die wichtige soziale Wertschätzung, die sie verdienen und brauchen.

Zur Person

Ruthild Heimann, gebürtige Münchnerin, ist ausgebildete Ergotherapeutin und seit 2009 im Südtiroler ­Kinder­dorf tätig. Sie studierte Erziehungs- und soziale Verhaltenswissenschaften und bildete sich in systemischer Familien- und Kunsttherapie weiter. Vor der Zeit im Kinderdorf betreute sie verschiedene Projekte in Umbrien, darunter Schulprojekte, Arbeiten in einem Drogenprojekt, Aufbau eines Bio- und Handwerkmarktes, Gründung eines Trekkingunternehmens mit Maultieren, Eseln und Pferden („Mulireisen“) u. v. a. m. Heimann ist ausgebildete Mediatorin und studiert derzeit Philosophie in Brixen.

 



Welche Rolle übernehmen Sie dabei?
Ruthild Heimann: Wir als Betreuerteam begleiten diesen Prozess kontinuierlich, indem wir dem ­Arbeitgeber beratend zur Seite stehen, gleich­zeitig aber auch den Werdegang des jungen Menschen hautnah mitverfolgen und unterstützen. Schön ist es, wenn ein Praktikum in einer Festanstellung endet. Erwähnenswert ist, dass einige dieser Arbeitspraktika vom deutschen Bildungswerk gefördert werden können; der Praktikant erhält das Entgelt am Ende des Praktikums und kann darüber frei verfügen.

Gibt es manchmal auch Probleme?
Ruthild Heimann: Ehrlich gesagt, ja. Es klappt leider nicht immer. Oft sind die Rahmenbedingungen des Berufslebens wie der erhöhte Leistungsdruck und der strenge Arbeitstakt für die Jugendlichen schwierig einzuhalten, auch und gerade da treten wir auf den Plan und ­bieten unsere Hilfe an. Wir suchen gemeinsam nach Lösungen, wie es besser funktionieren kann.

Jungbauer Johannes Meßner (links im Bild) mit Miguel beim Holzarbeiten.
Meßner: „Unsere Zusammenarbeit verläuft zufriedenstellend und harmonisch für beide Seiten. Miguel beherrscht die italienische Sprache und packt gerne mit an. Die Betreuung von Miguel teile ich mit meinen Eltern, die schon früher benachteiligten Menschen Arbeit am Hof angeboten haben.“
Jungbauer Johannes Meßner mit Miguel

Gibt es ein konkretes Beispiel für eine gelungene Arbeitsintegration mit Praktikum?
Ruthild Heimann: Ein gelungenes Beispiel freut mich besonders. Miguel (Name geändert), 17 Jahre alt, aus Argentinien, ist seit November 2014 bei uns im Kinderdorf. Er ist aufgrund seiner prekären familiären Situation über Süditalien und Bozen in unsere Einrichtung gelangt. Über einen privaten Kontakt ist es uns gelungen, ein Praktikum für Miguel am Bio-Bauernhof der Familie Meßner unweit des Kinderdorfes zu vermitteln. Hier verrichtet er, gemeinsam mit dem Jungbauern Johannes Meßner, verschiedene Arbeiten am Bauernhof, die im Laufe eines Jahres anfallen. Diese sind abwechslungsreich und gehen von Wald- und Holzarbeiten über Heuarbeiten bis zur Weinlese und Apfelernte.

Welche Lehrstellen bzw. Betriebe kommen denn für diese Praktika in Frage?
Ruthild Heimann: Das können ­verschiedenste Betriebe sein, ein Geschäft, ein Lager, ein Handwerksbetrieb, ein Bauernhof oder andere Akteure am Arbeitsmarkt. Ideal sind Tätigkeiten, die ­praktische Berufserfahrungen und Lernmöglichkeiten bieten, aber dennoch eine gewisse ­Flexibilität und Elastizität erlauben.

Was motiviert Sie persönlich am meisten bei Ihrer Arbeit?
Ruthild Heimann: Es macht mich glücklich, wenn ich sehe, dass Kinder und Jugendliche in einem angstfreien Umfeld ihre Fähigkeiten und Qualitäten entfalten und lernen, sich selber in der Welt zurechtzufinden. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Leben.

Südtiroler Kinderdorf in Brixen

wurde 1955 gegründet und betreute in der Nachkriegszeit vor allem Waisen­­kinder. Heute ist es eine wichtige Einrichtung für Kinder und ­Jugendliche, die vorübergehend aus familiären oder sozialen Gründen nicht zu Hause leben können. Das Kinderdorf bietet Kindern und Eltern ­bedarfsorientierte Angebote wie betreutes Wohnen, familienähnliche Wohn­gemeinschaften, ambulante Dienste, Begleitung alleinerziehender Frauen, verschiedene Therapien für Kinder, Jugend­liche und Eltern u. v. a. m. Die Organisation wird als Genossenschaft im sozialen Bereich ­geführt und beschäftigt 75 Mitarbeiter.

 

Kontakt:
Südtiroler Kinderdorf – Burgfriedengasse 28 – 39042 Brixen

www.kinderdorf.it, Tel. 0472 270 500, info@kinderdorf.it