Obdachlosenhilfe – Für ein menschenwürdiges Leben
„Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“ ist das Grundprinzip von Genossenschaften. Welch positive Veränderungen möglich sind, wenn sich Menschen gemeinsam engagieren, zeigt eindrucksvoll das Beispiel „dormizil“ in Bozen.
Obdachlosigkeit kann jeden treffen, wie die Lebensgeschichten im Nachtquartier „dormizil“ in Bozen zeigen. Ein Beispiel ist Josef, ein Südtiroler, der nach Familienproblemen ins Ausland ging und nach seiner Rückkehr keinen Anschluss mehr fand und auf der Straße landete. Ein weiteres Beispiel ist Yaro, ein ehemaliger Soldat aus Libyen, der vor einem Befehl zum Überfall seines Nachbardorfes floh und ebenfalls viele Jahre auf der Straße verbrachte. Keiner von ihnen wurde obdachlos geboren. Es handelt sich um Menschen wie du und ich, die aufgrund verschiedener Umstände wie Krankheit, Trennung, Arbeitslosigkeit, Schicksalsschläge sowie Alkohol- und Drogenprobleme – oftmals auch in Kombination – ihre feste Lebensgrundlage und ihr Dach über dem Kopf verloren.
Verein „housing first bozen EO“
Paul Tschigg und seine Mitstreiter*innen im Verein „housing first bozen EO“ arbeiten unermüdlich daran, dass diese Menschen nicht auf der Straße bleiben müssen. Der Verein wurde vor drei Jahren von Privatpersonen in Bozen gegründet und betreibt die Obdachlosenunterkunft in Bozen, die derzeit umgebaut wird, sowie ein Ersatzquartier in der Vintlerstraße. Hier finden 25 Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft, eine sichere Unterkunft und Schutz. Im vergangenen Winter haben 129 Freiwillige aus ganz Südtirol 4.500 Übernachtungen betreut und 183 Nacht- und Frühstücksdienste geleistet.
Ein neuer Ansatz
Die Initiative „dormizil“ verfolgt das Konzept von „housing first“, bei dem Wohnen an erster Stelle steht. Der herkömmliche Plan zur Wiedereingliederung von Obdachlosen sieht oft den Entzug, dann die Arbeitssuche und schließlich eine Wohnung vor. Paul Tschigg: „Das funktioniert nicht, da Betroffene oft keine oder nur eine prekäre Arbeit haben und sich teure Wohnungen in Südtirol nicht leisten können.“ „Housing first“ hingegen verfolgt einen anderen Ansatz: Es bietet bedingungsloses Wohnen als ersten Schritt zurück in ein „normales“ Leben. Hier dürfen die Menschen erst einmal ankommen und werden dann begleitet und unterstützt.
Tschigg: „Wir schreiben den Menschen nichts vor. Wir bieten auch keinen Luxus, aber wir geben ihnen Respekt und Würde – Dinge, die in einer Industriehalle als Notunterkunft oft fehlen. Wir schenken ihnen nichts, die Menschen sollen selbstständig werden und nicht von unserer Hilfe abhängig.“
Spenden
Zu verschenken hat der Verein ohnehin nichts. Das „dormizil 2“ in der Vintlerstraße bringt dem Verein Kosten für Miete, Heizung und Strom, Wäsche und Lebensmittel. Hinzu kommt der teure Umbau in der Rittnerstraße, der im Laufe des Jahres 2024 abgeschlossen sein soll. Die Macher des „dormizils“ nehmen keine öffentlichen Gelder, wollen unabhängig sein und selbst entscheiden, wen sie aufnehmen und zu welchen Bedingungen. Der Verein finanziert sich ausschließlich über Spenden und ist daher auf die Unterstützung von Gönnern angewiesen. Verschiedene Spendenpakete, die auf der Webseite www.dormizil.org ersichtlich sind, wurden geschnürt. Auch Sachspenden sind – in Absprache mit dem Verein – willkommen.
Einen Beitrag zum Umbau konnte die Raiffeisen Landesbank gemeinsam mit Ethical Banking und der Raiffeisenkasse Bozen leisten. „Obdachlosigkeit liegt vor unserer Tür“, sagt Manuela Mathà, Juristin im Bereich ESG-Management und Mitglied im Nachhaltigkeitskomitee der Raiffeisen Landesbank. „Einige unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisteten bereits Nacht- und Frühstücksdienste im „dormizil“, da war es nur naheliegend, eine Crowdfunding-Spendenplattform dafür einzurichten.“
Spenden sind willkommen, bitte helfen auch Sie mit!
Spendenkonto: Verein „housing first bozen EO“ bei der Raiffeisenkasse Bozen, Kennwort „Umbau“
IBAN: IT 22 I 08081 11601 000301004930
Die Spende ist von der Steuer absetzbar.
Crowdfunding
Was ist Crowdfunding? Auf Deutsch bedeutet das Wort Schwarmfinanzierung. „Es handelt sich um eine Finanzierungsform, bei der mehrere Geldgeber*innen mit kleinen Beträgen eine Idee oder ein größeres Vorhaben unterstützen“, erklärt Mathà. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat einst mit seinem Motto „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“ das Crowdfunding schon vorweggenommen, denn es beruht auf dem gleichen Prinzip.
Crowdfunding-Projekte werden über das Internet organisiert. Mit nur einem Klick kann jeder mit einem selbst gewählten Spendenbetrag zum Erfolg eines Projektes beitragen, entweder mittels Kreditkartenzahlung oder einer simplen Überweisung. Während der Fastenzeit konnten heuer auf diese Weise über 25.000 Euro von 119 Spendern für „dormizil“ gesammelt werden.
Die Raiffeisen Landesbank plant schon die nächste Aktion und wird den Umbau einer Wohnung mit einer Spende in Höhe von 95.000 Euro unterstützen. „Wichtig ist das konkrete Ziel, das man erreichen will – das motiviert ungemein“, betont Mathà. Auch andere Raiffeisenkassen nutzen Crowdfunding-Plattformen, um lokale Vereine und Initiativen zu unterstützen. In den letzten Jahren haben Raiffeisenkassen wie Bruneck, Unterland, Obervinschgau, Wipptal, Meran und andere erfolgreich mehr als 20 Crowdfunding-Projekte realisiert, insbesondere in den Bereichen Sport, Kultur und Soziales. Dies ermöglichte beispielsweise die Restaurierung der Lourdes-Kapelle in St. Valentin a.d.H. und die Finanzierung eines Pferdetransporters für den Reitclub Wiesen.
Nicht immer ist das „dormizil“ der Ausweg aus der Obdachlosigkeit. Manch einer wird auch fortgewiesen. Aber oft genug gelingt es. Josef ist ein Beispiel dafür, da er eine der Wohnungen erhalten hat, nun arbeitet und zufrieden ist. Auch der junge Mann aus Libyen lebt jetzt selbstständig und ist unabhängig. Tschigg fasst es treffend zusammen: „Jemand, der nicht betroffen ist, kann kaum ermessen, wie wertvoll es ist, einen Briefkasten mit eigenem Namen drauf zu haben.“
DORMIZIL – Das Sprungbrett in ein besseres Leben
Paul Tschigg, 67, pensionierter Unternehmer, engagiert sich seit vielen Jahren in der Obdachlosenhilfe.
Er ist Gründungsmitglied des Vereins „housing first bozen EO“.
Herr Tschigg, was wird derzeit in der Rittnerstraße gebaut?
Paul Tschigg: Es entstehen neun Kleinwohnungen, für eine und in einem Fall für zwei Personen – als Sprungbrett zurück ins Leben. Im Idealfall sind die Bewohner*innen nach zwei bis drei Jahren weg und die Wohnungen werden neu vergeben. Zusätzlich wird im Dachgeschoss eine temporäre Notunterkunft für maximal fünf Personen eingerichtet. Ein Aufenthaltsraum mit Duschen und eine Waschmaschine werden ebenfalls zur Verfügung stehen.
Während der Umbauarbeiten nutzt Ihr Verein ein Haus in der Vintlerstraße?
Ja, wir haben für 8 Monate ein Haus angemietet, das Platz für insgesamt 25 Personen bietet. Der Vermieter ist uns dabei sehr entgegengekommen.
Warum nimmt der Verein nicht mehr Obdachlose auf?
Mit Stockbetten hätten wir doppelt so viel Platz, aber der Einzelne hätte keinen angemessenen Platz mehr.
Wir wollen uns nicht nur um eine physische Unterkunft kümmern, sondern auch um die individuellen Bedürfnisse der Menschen. Dies beinhaltet das Zuhören, Respekt zeigen und ihre Belange wichtig nehmen.
Warum haben Sie sich für eine Lage mitten im Zentrum entschieden?
Die Lage ist sehr wichtig. Wir dürfen Menschen am Rand der Gesellschaft nicht weiter an den Rand drängen. Die Nachbarn wissen Bescheid, es gibt keine Probleme.
Was motiviert Sie, zu helfen?
Obdachlose brauchen dringend Wohnraum, Schutz, Sicherheit und eine Perspektive. Die Lebensgeschichten dieser Menschen gehen mir zu Herzen, und ich kann – genauso wie viele andere – nicht tatenlos zuschauen. Es kann nicht sein, dass im wohlhabenden Bozen Menschen im Winter erfrieren. Am Projekt „dormizil“ zeigt sich, welch positive Veränderungen private Initiativen mit der Unterstützung vieler Freiwilliger und Spender bewirken können