Gemeinsam mehr erreichen
Das Jahr 2025 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt. Ein passender Anlass, die Bedeutung und Vielfalt dieses Kooperationsmodells zu beleuchten, das auch in Südtirol eine zentrale Rolle spielt.
Genossenschaften sind eine echte Erfolgsgeschichte. Weltweit gibt es rund drei Millionen Genossenschaften mit insgesamt 1,2 Milliarden Mitgliedern und 280 Millionen Beschäftigten. Die Genossenschaftsidee, maßgeblich geprägt von den Genossenschaftsgründern Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch, wurde 2016 von der UNESCO sogar zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit ernannt.
„Genossenschaften leisten weltweit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse“, betont Herbert Von Leon, Obmann des Raiffeisenverbandes Südtirol.
Auch Südtirol ist ein Land der Genossenschaften. Die ersten entstanden bereits Ende des 19. Jahrhunderts. „Von Anfang an haben Genossenschaften dazu beigetragen, die Armut zu lindern, die Landflucht zu verhindern und den Menschen neue Perspektiven zu geben“, erklärt Von Leon. Vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren waren sie entscheidend am wirtschaftlichen Aufschwung beteiligt und tragen bis heute maßgeblich zum Wohlstand der Südtiroler*innen bei. Genossenschaften sind in nahezu allen Branchen zu finden, und manchmal erkennt man erst auf den zweiten Blick, dass hinter einem erfolgreichen Unternehmen oder Projekt eine Genossenschaft am Werk ist.
Sozialgenossenschaft „VergissMeinNicht“
Ein Beispiel dafür findet sich in einem eleganten Geschäft am Graben in Bruneck, der zentralen Einkaufsmeile der Stadt. Dort werden farbenfrohe Mäntel, Jacken, Kleider, Blusen und vieles mehr hochwertig und exklusiv präsentiert. Was auf den ersten Blick wie eine edel anmutige Boutique wirkt, entpuppt sich als die Sozialgenossenschaft „VergissMeinNicht“, die hier besondere Kleidungsstücke und Accessoires, vor allem aus Walkfilz, verkauft. In einer Nähwerkstatt entstehen aus Handarbeit Unikate, welche die Einzigartigkeit der Menschen widerspiegeln, die dahinterstehen. Zum Team gehören 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter sechs Personen mit Beeinträchtigung, sowie ein Dutzend ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, die Seite an Seite gemeinsam arbeiten. Gegründet wurde „VergissMeinNicht“ 2015 von Sigrid Regensberger – aus einer persönlichen Notlage heraus. Ihre Tochter Julia, damals 22 Jahre alt und beeinträchtigt, brauchte eine sinnvolle Beschäftigung.
„Solange beeinträchtigte Kinder die Schule besuchen, sind sie gut betreut“, erklärt Regensberger. „Doch nach der Schulzeit fällt dieses Betreuungsnetz oft weg.“ Anfangs wollte sie einen kleinen Verein für Freizeitaktivitäten gründen, stieß jedoch schnell auf rechtliche Hürden. „Mein Wirtschaftsberater machte mich auf Haftungsfragen aufmerksam, was mich beunruhigte“, erinnert sie sich. Schließlich wurde ihr die Start-up-Beratung des Raiffeisenverbandes empfohlen. „Dort wurden all meine Fragen geklärt und am Ende kristallisierte sich eine Sozialgenossenschaft mit Arbeitsinklusion als die beste Lösung heraus.“
Regensberger spricht lieber von „Grenzgängern“ als von Beeinträchtigten: Menschen, die arbeiten können und möchten, aber eine Arbeitsinklusion brauchen, weil sie dem freien Arbeitsmarkt nicht gewachsen sind. In einer Sozialgenossenschaft mit Arbeitsinklusion erleben sie eine reale Arbeitswelt, in der sie gefordert und gefördert werden.
Vielfalt und Bedeutung der Südtiroler Genossenschaften
„VergissMeinNicht“ ist eine von knapp 900 Genossenschaften in Südtirol, die insgesamt rund 12.500 Personen beschäftigen. Sie decken ein breites Spektrum an Branchen ab, darunter Landwirtschaft, Finanzen, Energie, leist-bares Wohnen, Gesundheit, Soziales, Nahversorgung, Kultur, Fair Trade u.a.m. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften wie Obst-, Kellerei- und Milchwirtschaftsgenossenschaften gelten als historischer Kern des Genossenschaftswesens. Mit Innovationskraft und Wirtschaftsstärke tragen sie heute maßgeblich zum internationalen Erfolg Südtiroler Produkte wie Wein, Äpfel und Milch bei.
Auch die 39 Raiffeisenkassen sind ein Vorzeigesektor: „Im Gegensatz zu kapitalgetriebenen Banken steht bei den lokalen Genossenschaftsbanken nicht die Ausschüttung großer Dividenden im Vordergrund, sondern der größtmögliche Nutzen für die Mitglieder und Kund*innen und die örtliche Gemeinschaft,“ erklärt Von Leon. Nach dem Prinzip „Geld vom Ort für den Ort“ werden Kundeneinlagen gesammelt und als Kredite an die lokale Bevölkerung und Betriebe weitergegeben. Zudem fördern die Raiffeisenkassen lokale Sport- und Kulturvereine sowie soziale Projekte vor Ort. „Das große Vertrauen in ihre Kompetenz und Kundennähe zeigt sich daran, dass die Hälfte der Südtiroler Bevölkerung Kund*in bei einer Raiffeisenkasse ist“, ergänzt Von Leon. Insgesamt erwirtschaften die Raiffeisen-Genossenschaften (einschließlich der landwirtschaftlichen Genossenschaften) eine Bruttowertschöpfung von knapp 1,6 Milliarden Euro.
Was zeichnet die genossenschaftliche Unternehmensform besonders aus?
„Genossenschaften sind nicht nur eine wirtschaftliche Organisationsform, sondern auch Ausdruck gelebter Solidarität und Zusammenarbeit“, betont Soziallandesrätin Rosmarie Pamer, die in der Landesregierung auch für den Bereich Genossenschaften zuständig ist. Robert Zampieri, Generaldirektor des Raiffeisenverbandes, stimmt zu: „Genossenschaften bringen Menschen zusammen, die aktiv ihr wirtschaftliches, soziales oder kulturelles Umfeld mitgestalten wollen, nach dem Motto: Was der Einzelne nicht schafft, das schaffen wir zusammen.“ Dabei geht es nicht nur um Geschäftszahlen, sondern um lokale Verankerung, Mehrwerte, Zusammenhalt und gesellschaftliches Engagement. „Wirtschaftlicher Erfolg muss stets mit sozialer Verantwortung einhergehen. All dies vereint das genossenschaftliche Geschäftsmodell in idealer Weise“, sagt Zampieri.
Genossenschaften sind Möglichmacher. Vielversprechende Zukunftsfelder finden sich in vielen Bereichen, beispielsweise in der Energiewirtschaft, wo sich mehrere Interessenten zu Energiegemeinschaften zusammenschließen, um eine dezentrale, nachhaltige Stromerzeugung sicherzustellen und den Mitgliedern günstige Strom- und Wärmepreise zu bieten. Oder bei den neu entstehenden Bürgergemeinschaften, wo Bürger*innen aktiv die Initiative ergreifen, um wichtige Dienstleistungen oder Güter für die Gemeinschaft vor Ort zu erbringen und die regionale Entwicklung zu fördern
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„Wir haben nicht nur Kund*innen, wir haben Fans.
Sie lieben unsere Produkte und das ist großartig.“
Sigrid Regensberger, Gründerin von „VergissMeinNicht“
Interessensvertretung und Unterstützung durch den Raiffeisenverband Südtirol
Sozialgenossenschaften leisten einen wesentlichen Beitrag zum Gemeinwohl in Südtirol und gewinnen zunehmend an Bedeutung. Sie bieten vielfältige Dienstleistungen für Senior*innen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Kinder und Familien – oft als Ergänzung zu institutionellen und privaten Einrichtungen. Was bei der Sozialgenossenschaft „VergissMeinNicht“ einst mit der Idee begann, Ponchos für den Weihnachtsmarkt in einem kleinen Atelier zu nähen, hat sich zur Erfolgsgeschichte entwickelt. Heute wird ihre Mode nicht nur im Geschäft in Bruneck angeboten, sondern auch online, auf Messen und bei Wiederverkäufern in Deutschland, Innsbruck und Bergamo. Die Leitung der Genossenschaft erfordert dabei eine feine Balance und ist mitunter ein Drahtseilakt, wie Sigrid Regensberger erklärt: „Wir wollen pädagogische Konzepte leben, müssen aber auch wirtschaftlich arbeiten. Wenn die Bilanz nicht stimmt, haben wir keine Zukunft!“ Sie wünscht sich mehr Ressourcen für die Förderung und Ausbildung der Grenzgänger*innen, um eine umfassende Begleitung zu gewährleisten.
Unterstützung und Förderung sind für Genossenschaften von großer Bedeutung. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Raiffeisenverband Südtirol, der mit über 350 angeschlossenen Genossenschaften der größte Genossenschaftsverband des Landes ist.
Im Fokus der Verbandsarbeit stehen die Interessensvertretung, der Schutz sowie die Förderung der Leistungsfähigkeit der Mitgliedsgenossenschaften. Generaldirektor Robert Zampieri: „Wir begleiten und schützen unsere Mitglieder, damit diese kapillaren Strukturen im ländlichen Raum erhalten bleiben und sie ihr Umfeld weiter gestalten können.“ Die Strategie des Raiffeisenverbandes ist deshalb konsequent auf Mitglieder- und Kundenorientierung ausgerichtet. „Mit unserem Dienstleistungsangebot und unserer Expertise möchten wir den größtmöglichen Nutzen für unsere Mitglieder stiften und Leuchtturm sein“, so Zampieri. „Zusammenhalt ist dabei ein entscheidender Faktor – er macht uns stark.“ Das Jahr 2025 steht im Zeichen von Kooperation und Netzwerken, auch bei „VergissMeinNicht“. Die Genossenschaft organisiert Wohnzimmerverkäufe und Schokoladenverkostungen, während die Geschützte Werkstätte „Trayah“ aus den Resten der Walkstoffe Teppiche fertigt. Unterstützung beim Teppichprojekt kommt auch von den Seniorinnen und Senioren aus dem Altersheim, die beim Zuschneiden der Stoffe helfen. Gemeinsam gelingt es, etwas Einzigartiges zu schaffen – mehr, als eine Person allein je schaffen könnte.
Bürogenossenschaften – Lokale Entwicklung und Bürgerbeteiligung am Beispiel Martelltal
Bürgerinnen und Bürger möchten bei Dienstleistungen vor allem eines: sie kostengünstig und ohne viel Bürokratie in Anspruch nehmen. Die neue Form der Bürgergenossenschaften vereint dies vorteilhaft in sich, da die örtliche Gemeinschaft sowohl Träger als auch Empfänger der Leistungen ist.
Das Genossenschaftswesen hat im Martelltal Tradition. So gingen der Bürgergenossenschaft Martell 3B eine Sportgenossenschaft und später eine Regionalgenossenschaft voraus: „Doch eine Fülle von Angeboten einzubeziehen, auch sozialer Natur, dafür ist die Bürgergenossenschaft genau die richtige Genossenschaftsform“, betont Heidi Gamper, Vizebürgermeisterin der Gemeinde Martell. Unterstützt vom Raiffeisenverband Südtirol, verfolgt die Genossenschaft klare Ziele: der Abwanderung aus dem ländlichen Gebiet entgegenzuwirken, leistbares Wohnen voranzutreiben, die Nahversorgung zu sichern und auch eine landwirtschaftliche Direktvermarktung zu organisieren. „Martell als Streusiedlung mit 850 Einwohner*innen ist sehr klein, da gilt es, eine Vielzahl an Leistungen unter einem gemeinsamen Dach zum Wohle der Allgemeinheit zu erbringen“, so Obmann Alexander Mair. Dabei ist es wichtig, die Bevölkerung in die Weiterentwicklung der Bürgergenossenschaft einzubeziehen.“ Ein großer Vorteil der Genossenschaft ist die Schaffung flexibler Arbeitsplätze.
Viele Leistungen werden oft nur saisonal oder stundenweise erbracht, wie beispielsweise Dienste im Elektrizitätswerk, im Biathlon- und Jugendzentrum oder im Selbstversorgerhaus. „Dank der Bürgergenossenschaft können wir Personal ganzjährig für verschiedene Aufgabenbereiche beschäftigen“, sagt Gamper.
Die gesetzlich nunmehr definierten Voraussetzungen erleichtern die Gründung von Bürgergenossen- schaften. Da Innovationscharakter oder die besondere soziale Bedeutung in Hinblick auf künftige Förderungen wichtig sind, bietet der Raiffeisenverband verstärkt Beratungen zur Gründung an. „Das Beispiel Martelltal zeigt, wie Bürgergenossenschaften als moderne, nachhaltige Organisationsform ländliche Gebiete stärken und eine lebendige Gemeinschaft fördern können“, bekräftigt Christian Tanner, Vize-Direktor des Raiffeisenverbandes. Voraussetzung für die Gründung einer Bürgergenossenschaft sind mindestens neun Mitglieder, von denen 40 % ihren Wohnsitz im Bezugsgebiet haben müssen.
Im Bild: Heidi Gamper, Vizebürgermeisterin der Gemeinde Martell, Obmann Alexander Mair und Vize-Obfrau Katharina Fleischmann von der Bürgergenossenschaft Martell 3B mit Karl Heinz Weger, Mitgliederbetreuer im Raiffeisenverband
Interessiert an der Gründung einer Bürgergenossenschaft?
Dann wenden Sie sich an startup@raiffeisenverband.it oder telefonisch unter Tel. 0471 945111. Der Raiffeisenverband berät und unterstützt Sie gerne, auch bei der Anerkennung einer bereits bestehenden Genossenschaft als Bürgergenossenschaft.