Ausgabe 04/20 -

Lokal und global

Wie krisensicher ist unser lokales Nahrungsversorgungssystem und wie wird sich dieses in Zukunft entwickeln? Abschottung und Isolation führen nicht zu einer besseren Zukunft, meint Universitätsprofessor Christian Fischer.

Herr Professor Fischer, wie resilient ist unsere Nahrungsversorgung? Sind Wert und Wertschätzung von Lebensmitteln durch die Corona-Krise gestiegen?

Univ. Prof. Christian Fischer: Unser Nahrungsversorgungssystem ist stabil und leistungsfähig, auch in Krisenzeiten. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern beruht auf der harten Arbeit vieler Menschen. Und es bleibt auch nur stabil und funktionsfähig, wenn diese Menschen ihrer Arbeit nachgehen dürfen. Sie sind „systemrelevant“. In Europa und in Italien ist es – mit Ausnahme von einigen Produkten bei Hamsterkäufen – zu keinen größeren Versorgungsengpässen gekommen. Ich denke, die meisten Verbraucher wissen, was sie an unserem heutigen Nahrungsversorgungssystem haben, wie beispielsweise die große Produktvielfalt und hohe Lebensmittelqualität.

Hat die Bedeutung regionaler Wertschöpfungsketten zugenommen?

Durch die zwei Monate des Lockdowns haben sich die Versorgungssysteme nicht grundlegend geändert, vor allem nicht, wenn ein Großteil der Wirtschaft lahmgelegt ist. Unsere gegenwärtige Versorgungsstrukturen sind kein aufoktroyiertes Joch, sondern das gewachsene Ergebnis jahrzehntelangen selbstbestimmten Wirtschaftens im Einklang mit Verbraucherwünschen. Warum sollte sich an diesem Resultat nun etwas ändern? Wenn es von einer breiten Bevölkerungs­mehrheit gewünscht wäre, hätten wir schon vor Corona ein anderes System gehabt.

Gibt es bei der Lebensmittelversorgung in Südtirol Abhängigkeiten?

Das ist ein komplexes Thema. Südtirol ist alles andere als autark. Die im Land hergestellten Produkte wie Äpfel, Milch und Wein werden zum Großteil exportiert und im übrigen Italien sowie an Urlaubsgäste im Land verkauft. Gleichzeitig importiert Südtirol wertmäßig mehr Nahrungsmittel aus dem Ausland und dem übrigen Italien, als es ausführt. Fakt ist, dass Südtirol im Zentrum des europäischen Wirtschaftsraums liegt und mit diesem vollständig vernetzt ist, was für die Ausfuhren als auch die Einfuhren gilt.


Was zeichnet nachhaltige Nahrungs­versorgungssysteme und Ressourcen­ökonomik aus?

Menschen sind verbrauchende Wesen, die mit Nahrung versorgt werden müssen. Diese muss gezielt produziert werden. Mehr Menschen bedeuten aber mehr Produktion und damit höheren Ressourcenverbrauch. Unser Planet und seine Rohstoffe sind begrenzt. Also muss mehr Nahrung produziert werden, mit weitgehend fixen Ressourcen und in einer Weise, welche die natürliche und soziale Umwelt möglichst wenig belastet. Über das Ziel herrscht weitgehend Einigkeit, über den Weg dahin jedoch nicht. Aber so viel ist klar: Die Zukunft sieht anders aus als die Vergangenheit und es wird Anpassungen geben müssen, und zwar in erster Linie in der landwirtschaftlichen Produktion. Das heißt, mehr Nahrung von gleicher oder sogar geringerer Landfläche, mit weniger synthetischen Düngemitteln und Pflanzenschutz, sparsameren Wasser- und Energieeinsatz, bei Verbesserungen von Artenvielfalt, Tierwohl und Klimaschutz.

CHRISTIAN FISCHER

Universitätsprofessor Christian Fischer lehrt an der Fakultät für Natur­wissenschaften und Technik an der Freien Universität Bozen. Seine Forschungs­schwerpunkte sind Versorgungs- und Wertschöpfungsketten in der Agrar- und Ernährungs­wirtschaft, nachhaltige Nahrungsversorgungssysteme, Ressourcenökonomik, Ernährungspolitik, Agrar­marketing sowie lokale Agrarentwicklung. Seine Studium Generale-Vorlesung „Nahrungsversorgungssysteme heute und morgen: Globale Herausforderungen und lokale Lösungen für die Welternährung“ ist für die breite Bevölkerung konzipiert und kann von dieser besucht werden. Seit 2019 ist er Co-Sprecher des Südtiroler Ernährungsrates.


WAS IST DER SÜDTIROLER ERNÄHRUNGSRAT?

Der Südtiroler Ernährungsrat wurde im Oktober 2017 aus der Taufe gehoben. Er ist Teil einer weltweiten Initiative, die in den Vereinigten Staaten ihren Lauf nahm. Engagierte Bürger mit Erfahrung, u.a. aus Bildung, Landwirtschaft, Fairem Handel und Verbraucher­schutz, dienen ehrenamtlich als Fachstimme der Zivilgesellschaft mit dem Ziel, die öffentliche Meinungsbildung und politische Entscheidungs­findung bei Ernährungs­themen zu beeinflussen. Nach einem ersten Jahr mit erfolgreich abgeschlossenen Projekten und Veranstaltungen werden 2020 Standpunkte zu aktuellen ernährungs­politischen Debatten erarbeitet.


Immer öfter ist von Glokalisierung die Rede. Was versteht man darunter?

„Glokalisierung“ oder „Glokalismus“ bedeutet das Nebeneinander und die Vernetzung von Global und Lokal. Das geht meist mit viel Philosophie und Schwarz-Weiß-Malerei einher. Tatsächlich ist unsere Welt grau, in unzähligen Abstufungen, und besteht nicht nur aus „meinem Dorf“ und dem internationalen Großkonzern. Wir sollten solche Dogmen und Polarisierungen vermeiden. Herkunft ist bei Nahrungsmitteln nicht das Problem, sondern deren Qualität (insbesondere Produkt­­sicherheit), Nach­- haltigkeit und Leistbarkeit. Und diese Eigenschaften sind im Allgemeinen vom Produktionsort unabhängig.

Verbraucher sind aufgerufen, verstärkt lokal und saisonal einzukaufen, um die heimischen Produzenten zu unterstützen …

Stellen Sie sich vor, das praktizierten nicht nur die Südtiroler Verbraucher, sondern auch die Konsumenten in den Exportmärkten (einschließlich Italiens) der Südtiroler Äpfel, der Milch, des Weins und Specks. Oder auswärtige Gäste würden nicht mehr nach Südtirol kommen, weil alle Urlaub zuhause machen. Die Folgen wären gravierend: Wir müssten einen Großteil der Betriebe in der Südtiroler Landwirtschaft, des Fremden­verkehrs und der landwirtschaftlichen Genossenschaften schließen. Nein, Verbraucher sind aufgerufen, vernünftig zu handeln und ihre Lebensmittel nach Nährwert, Qualität und Preis-Leistungs- ­verhältnis auszuwählen, das ist alles. Was nicht ausschließt, dass die Wahl dann auch auf lokale Erzeugnisse fällt.

Laut einer Erhebung des WIFO – Institut für Wirtschafts­forschung spielen Regionalität, bio­logische Produktion und Fairer Handel eine wichtige Rolle für die Südtiroler. Ist der Konsu­ment aber bereit, dafür auch mehr Geld auszugeben?

Bei Befragungen gibt der Bürger oft sozial erwünschte Antworten. Als Verbraucher handelt er jedoch oft anders, nämlich wirtschaftlich orientiert, auf Basis von Kosten und Nutzen. Beides ist nicht immer miteinander vereinbar. Zudem sind Konsumenten verschieden. Wichtig ist, dass der Marktanteil von alternativen Produkten und Einkaufskanälen wächst, wenn auch nur langsam. Ein ausdifferenziertes Nahrungs­versorgungssystem mit viel Auswahlmöglichkeiten bedeutet Vielfalt und Freiheit für Verbraucher und eröffnet neue Produktions- und Absatzmöglichkeiten für Hersteller.