CARITAS SÜDTIROL „Wir brauchen mehr Toleranz und Offenheit gegenüber Schwächeren“
Von der Wohnungsnot bis zu internationalen Projekten: Die Caritas Südtirol setzt sich täglich für Menschen in schwierigen Lebenslagen ein. Direktorin Beatrix Mairhofer gibt Einblicke in bewegende Begegnungen, den Beitrag der Freiwilligen und die Bedeutung von Wertschätzung im Sozialbereich.
Frau Mairhofer, ein kurzer Rückblick: Welche Themen und Brennpunkte beschäftigten die Caritas Südtirol im Jahr 2025 besonders stark?
Beatrix Mairhofer: Das akuteste Problem war und ist die Wohnungsnot, besonders in den Städten und insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund.
Gibt es neue Herausforderungen und Entwicklungen, die Sie überraschen oder die Sie als besonders prägend für die soziale Arbeit hierzulande erleben?
Der soziale Bereich wird politisch und gesell- schaftlich nach wie vor zu wenig wertgeschätzt. Weil seine Anliegen kaum Gehör finden, die Arbeit oft schlecht bezahlt ist und soziale Themen am Rand wahrgenommen werden, entscheiden sich immer weniger junge Menschen für Berufe in diesem Bereich.
Hat Sie ein Ereignis oder eine Begegnung besonders beeindruckt?
Bei der Caritas gibt es täglich bewegende Momente – sei es mit den Mitarbeitenden bei ihrem Tun oder mit Menschen, die wir begleiten. Besonders eindrucksvoll waren auch die Projektreisen nach Afrika: die Freude der 40 Kinder eines Waisenhauses, denen wir Kleidung gebracht haben, die Caritas-Mitarbeitende untereinander gesammelt haben. Da das Waisenhaus nach dem Rückzug einer spanischen Privat-stiftung plötzlich ohne Unterstützung dastand, werden wir diese jetzt übernehmen.
In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft – wie wichtig ist professionelle Sozialarbeit heute, und wo sehen Sie ihre Grenzen?
Professionelle soziale Arbeit ist heute wichtiger denn je. Weil die Menschen älter werden und sich Familienstrukturen verändern, braucht es immer mehr Unterstützung in vielen Lebensbereichen. Doch diesen Bedarf können wir nur decken, wenn sich auch viele freiwillig engagieren.
Viele Südtirolerinnen und Südtiroler bringen sich bereits bei der Caritas ein. Wo sind die Freiwilligen vor allem aktiv, und welche Bedeutung hat ihr Einsatz für die Caritas?
Die vielen Freiwilligen sind für uns als Caritas unentbehrlich. Sie unterstützen nicht nur unsere hauptamtlichen Mitarbeitenden, sondern sind in Bereichen wie der Telefonseelsorge, der Hospizbewegung und der Essensausgabe oft die Hauptakteure. Ihr Einsatz verleiht unseren Angeboten eine besondere Qualität, die direkt den Menschen zugutekommt, die unsere Hilfe brauchen. Ihr Engagement ist gelebte Solidarität und stärkt das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft.
Hat sich die Situation von Migrantinnen und Migranten in Südtirol in den letzten Jahren zum Besseren verändert?
Grundsätzlich lässt sich die Frage mit „Ja“ beantworten: Migrantinnen und Migranten sind heute ein fester Teil des Arbeitsmarkts, besonders in bestimmten Branchen. Es gibt viele Unterstützungsangebote, Beratungsstellen und interkulturelle Projekte und die Integration hat sich verbessert. Allerdings verfügen viele nur über geringe Qualifikationen und verdienen wenig. Eine eigene Wohnung zu finden, ist oft kaum möglich, nicht zuletzt aufgrund von Vorurteilen und Diskriminierung durch Vermieterinnen und Vermieter. Zudem gibt es unter ihnen zunehmend mehr Personen in prekären gesundheitlichen Situationen, was sich negativ auf die Sicherheit der gesamten Bevölkerung auswirkt.
Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit Menschen am Rande der Gesellschaft nicht nur „betreut“ werden, sondern wirklich teilhaben können?
Damit alle wirklich mitmachen und dazugehören können, braucht es mehr Toleranz und Offenheit gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Wir alle müssen den Willen zu einer inklusiven Gesellschaft haben.
Wie gelingt es, soziale Themen in Politik und Öffentlichkeit sichtbarer zu machen – gerade in einem Umfeld, in dem wirtschaftlicher Erfolg oft im Vordergrund steht?
Soziale Themen betreffen uns alle – nicht nur bestimmte Bevölkerungsgruppen, sondern auch die Wirtschaft. Deshalb sollten sie auch von Politik und Medien klar und sichtbar kommu-niziert werden, damit der soziale Bereich mehr Anerkennung bekommt. Wichtig ist, dass alle, die im Sozialbereich arbeiten – ob öffentlich oder privat – gemeinsam und auf Augenhöhe über notwendige Maßnahmen sprechen und diese auch umsetzen. Und: Soziale Arbeit muss unabhängig vom Träger gleich bezahlt werden. Nur so entsteht echte Wertschätzung.
Wie gelingt es junge Menschen für die solidarische Hilfe zu begeistern?
Mit unserer youngCaritas sind wir regelmäßig in Mittel- und Oberschulen unterwegs. In interaktiven Workshops erzählen wir von unserer Arbeit im In- und Ausland und laden die Schüler-innen und Schüler ein, sich mit eigenen Aktionen zu engagieren. Auch in unseren Ferieneinrichtungen in Caorle und Cesenatico erleben viele Kinder und Jugendliche, was die Caritas ausmacht. Freiwillige Ferieneinsätze und der Zivildienst in unseren Einrichtungen zeigen: Der Dienst am Nächsten begeistert und verbindet.
Das Caritas-Netzwerk spannt sich fast um die ganze Welt. Wo wurde Hilfe am meisten gebraucht und welches Projekt ist Ihnen dabei besonders in Erinnerung geblieben?
Die leidtragende Bevölkerung in der Ukraine und in Gaza hat unsere Hilfe besonders benötigt. Hier zeigen sich die Südtirolerinnen und Südtiroler auch besonders solidarisch. Persönlich hat mich heuer das Kayla-Peace-Village bei meiner Reise im Nordosten Ugandas beeindruckt: Das Projekt wurde von einem ehemaligen Comboni-Missionar aus Verona ins Leben gerufen und wird von der Caritas begleitet. Dort erhalten hunderte Jugendliche – vor allem Mädchen – die Chance, einen Beruf zu erlernen und das Gelernte direkt in kleinen Landwirtschafts- oder Tourismusbetrieben anzuwenden. Für viele ist das die erste echte Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben.
Wenn Sie auf 2026 blicken: Welche Ziele und Vorhaben möchten Sie bis Jahresende erreichen?
Das bereits Bestehende werden wir so gut wie möglich weiterführen, und was das nächste Jahr an Neuem bringt, wird sich zeigen. Als Caritas ist es unsere Aufgabe, immer relativ schnell und effizient auf Herausforderungen zu reagieren, die sich plötzlich auftun.
Zum Abschluss: Wenn Sie einen Wunsch an die Fee für 2026 frei hätten, was würden Sie sich für Südtirol wünschen?
Ich wünsche mir ein stärkeres Wir-Gefühl unter allen Menschen in Südtirol und dass die Schere zwischen jenen, die im Wohlstand leben, und jenen, die sich schwertun, kleiner wird, damit wir hier alle langfristig friedlich miteinander leben können.
Die Caritas Südtirol ist eine Einrichtung der Diözese Bozen-Brixen. Sie unterstützt Menschen in Not und trägt zu einer solidarischen, sozial gerechten Gesellschaft bei. Beatrix Mairhofer, Rechtsanwältin und langjährige Bürgermeisterin der Gemeinde Ulten, leitet seit drei Jahren die Caritas. Sie koordiniert die zahlreichen Tätigkeiten, die gemeinsam mit 300 hauptamtlichen und 1.200 ehrenamtlichen Mitarbeitenden in rund 50 Einrichtungen und Anlaufstellen umgesetzt werden.

