Ausgabe 02/18 -

200 Jahre Friedrich Wilhelm Raiffeisen

Der Raiffeisenverband Südtirol erinnert 2018 mit mehreren Initiativen
an das Erbe von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Obmann Herbert Von Leon und
Generaldirektor Paul Gasser über die Lebensleistung Raiffeisens und warum der Jubilar heute nach wie vor eine Identifikationsfigur für die junge Generation sein kann.

„Ein Mann der Tat“

Herr Von Leon, Herr Gasser, am 30. März 2018 jährt sich der Geburtstag Friedrich Wilhelm Raiffeisens zum 200. Mal. Worin besteht die große Lebensleistung des Jubilars?
Herbert Von Leon: Friedrich Wilhelm Raiffeisen war ein großer Humanist und Sozialreformer seiner Zeit. Er war kein Theoretiker, sondern ein Mann der Tat. Raiffeisen hat es sich zum Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen seiner Mit­bürger zu verbessern und vor allem die sozialen Missverhältnisse, die es zu seiner Zeit gegeben hat, zu bekämpfen. Das Wichtige daran: Er ist es mit einem nachhaltigen Ansatz angegangen. Mit einer einmaligen Hilfe war es nicht getan. Er war davon überzeugt, dass man den Menschen Mittel und Wege zeigen müsse, wie sie sich langfristig selbst helfen können.
Paul Gasser: Dem kann ich nur beipflichten. Raiffeisen hat es geschafft, mit Hilfe der Genossenschaften den sozialen Belangen mehr Gewicht in der Gesellschaft zu verleihen. Mit den Genossenschaften hat er Gemeinschaften begründet, denen sich sowohl arme als auch reiche Menschen zugehörig fühlen.

Die Genossenschaftsidee wurde 2016 von der UNESCO auf die Liste des „Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ gesetzt. Welche Bedeutung hat das?
Paul Gasser: Damit wird international anerkannt, dass Genossenschaften zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen beitragen. Von Genossenschaften geht ja nach wie vor eine große Kraft aus. Schon in seinem Buch über die Darlehenskassen schrieb Raiffeisen, dass die Genossenschaften den Zweck haben, die sittlichen und materiellen Verhältnisse der Menschen zu verbessern. Bewusst stellte Raiffeisen die sittlichen Belange vor die materiellen, die in der heutigen Zeit mit geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten umschrieben werden könnten. Das erscheint mir wichtig.
Herbert Von Leon: Und das Soziale ist heute aktueller denn je, ich denke nur an die Sozialgenossenschaften. Diese haben zwar in wirtschaftlicher Hinsicht nicht dieselbe Kraft wie zum Beispiel landwirtschaftliche Genossenschaften. Aber sie werden in der heutigen Zeit, in der die öffentliche Hand den Gesundheitsbereich nicht alleine schultern kann, immer wichtiger.


Die Lebensumstände in Europa haben sich seit Raiffeisen radikal verändert. Kann ein Mann aus dem 19. Jahrhundert eine Identifikations­figur für eine junge Generation aus dem 21. ­Jahrhundert sein?
Paul Gasser: Davon bin ich überzeugt. Erstens steht bei Raiffeisen der Mensch im Mittelpunkt. Mit der Solidarhaftung steht jeder für jeden gerade, das Kapital ist nur Mittel zum Zweck. Junge Menschen sind hellhörig, wenn es heute um die Moral in der Finanzwelt und um nachhaltige Investitionen geht. Zweitens vertritt Raiffeisen eine einfache Idee: Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele. Er stellt die Gemeinschaft in den Mittelpunkt, in der jeder eine Stimme hat, die gleich viel zählt wie die der anderen. Dieses basisdemokratische Denken entspricht durchaus den Vorstellungen vieler junger Menschen von heute. Und drittens, aber das gilt nicht nur für die jüngere Generation: Raiffeisens Idee der Hilfe zur Selbsthilfe ist aktueller denn je. Wenn ich an die großen Probleme unserer Zeit denke, etwa an die Flüchtlingsströme oder den Klimawandel, dann bin ich sicher, dass wir diese Probleme nur durch Hilfe zur Selbsthilfe lösen können.
Herbert Von Leon: Bei Genossenschaften steht nicht der Gewinn des Einzelnen im Vordergrund. Dieser Aspekt macht sie für junge Menschen attraktiv, denn in ihrem Leben ­nehmen Soziales und Nachhaltigkeit einen hohen Stellenwert ein. Außerdem sind sie sehr gut ausgebildet und ­informiert: Sie wissen, welche wirtschaftliche und soziale Kraft von Genossenschaften ausgeht. Das alles verkörpert Raiffeisen heute noch.

Herbert Von Leon

„Bei Genossenschaften steht nicht der Gewinn des ­Einzelnen im ­Vordergrund. Das macht sie auch für ­junge Menschen attraktiv, für die Soziales und ­Nachhaltigkeit ­wichtig sind.“

Raiffeisens Idee der Hilfe zur Selbsthilfe ist in Südtirol früh auf fruchtbaren Boden gefallen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung und Bedeutung hierzulande?
Herbert Von Leon: Ohne die Genossenschaften würde es traurig ausschauen. Ich denke nur an die Landflucht, die es einige Hundert Kilometer weiter südlich von Südtirol gibt. Es ist nicht nur ein Verdienst der Genossenschaften, sondern sicherlich auch der Politik, dass das in Südtirol nicht der Fall war. Die Politik hat das Genossenschaftswesen gefördert und damit jungen Menschen eine Perspektive gegeben. Die großen Warengenossenschaften, vor allem in der Milch-, Wein- und Obstwirtschaft, haben Arbeitsplätze geschaffen – und das nicht wenige. Die wirtschaftliche Leistung dieser großen Genossenschaften ist enorm.
Paul Gasser: Südtirol war Ende des 19. Jahrhunderts noch ein armes Land, der Wiederaufbau nach den Napoleonischen Kriegen kam nur schleppend voran. Hinzu kam die Industrialisierung. Die Entwicklung des Genossenschaftswesens hat wesentlich dazu beigetragen, viele Missstände zu beseitigen. Heute hat fast jeder, direkt oder indirekt, irgendeine Verbindung zu einer Raiffeisengenossenschaft. Raiffeisen spielt nicht nur in der Landwirtschaft und im Kreditwesen eine große Rolle, sondern auch im Sozial- und Energiebereich. Die Raiffeisenkassen sind stark in den Ortschaften verwurzelt und waren ein wesentlicher Faktor des Wirtschaftsaufschwungs. Genossenschaften tragen nach wie vor wesentlich zum Wohlstand im Land bei.


Worin besteht die besondere Leistungsfähigkeit der Genossenschaften?
Paul Gasser: In Südtirol geht von den Genossenschaften ein enormer Innovationsschub aus. Ich denke nur an die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die alle hochmodern organisiert und mit der neuesten Technologie ausgestattet sind. Das ist auch notwendig, damit sie am globalen Markt bestehen können.
Herbert Von Leon: Genossenschaften werden von der Basis gesteuert, und das macht die Entscheidungsfindung nicht immer leicht und mitunter auch langsamer, weil sie durch ein Wechselspiel zwischen Verwaltungsrat und Vollversammlung zustande kommt. Allerdings werden damit – im Unterschied zu anderen Unternehmensformen – keine vorschnellen Entscheidungen getroffen, die gravierende negative Folgen haben können.

200 Jahre Friedrich Wilhelm Raiffeisen Logo

Paul Gasser

„Genossenschaften sind in vielen sozialen Bereichen tätig, wo man nicht das große Geld machen kann, die aber in Zukunft immer wichtiger werden.“

Welche Antworten bietet Raiffeisens Idee auf die großen Herausforderungen unserer Zeit?
Herbert Von Leon: Der aktuelle weltweite Trend des Immer-größer-Werdens geht für mich in die falsche Richtung. Immer mehr Menschen ver­stehen, dass man nicht immer Zuwächse im zweistelligen Bereich haben kann, weil das ja auch immer bedeutet, dass irgendjemand ­Verluste hinnehmen muss. Genossenschaften sind auf Kontinuität angelegt und beweisen, dass es auch anders gehen kann.
Paul Gasser: Dabei sind Genossenschaften in Bereichen tätig, in denen man nicht das große Geld machen kann, die aber in Zukunft ­immer ­wichtiger werden. Ich meine den sozialen ­Bereich, das Gesundheits- und Sanitätswesen, die Bereiche Integration, Pflege und Kinderbetreuung. Hier wachsen die Herausforderungen auch bei uns in Südtirol täglich. Um diese bewältigen zu können, braucht es ein gutes Zusammenspiel zwischen öffentlicher Hand und Genossenschaften, die gewisse Leistungen mit einem geringeren Aufwand erbringen können.
Herbert Von Leon: Allerdings muss es für diese Genossenschaften möglich sein, kostendeckend zu arbeiten und Investitionen zu tätigen. Dazu muss auch die Politik beitragen.

Welche Trends zeichnen sich im ­Genossenschaftsbereich ab?
Herbert Von Leon: Für mich ist das ganz klar die wachsende Anzahl der Sozialgenossenschaften, die immer wichtiger werden.
Paul Gasser: Ein weiterer Trend sind sicher die Bürgergenossenschaften, das kann man europa­weit feststellen. In Gebieten, in denen die öffentliche Verwaltung gewisse Dienste nur mit großen Schwierigkeiten aufrechterhalten kann, schließen sich die Bürger zu Genossenschaften zusammen und versuchen, mit Unterstützung der öffentlichen Hand, diese Dienste zu über­nehmen. Diese Entwicklung steckt noch in den Kinderschuhen, aber es gibt bereits einige Beispiele in Deutschland, zum Beispiel ein Dorfgasthaus, das von einer Genossenschaft übernommen wurde.

Wie gedenkt man in der Raiffeisenwelt des besonderen Jubiläums und welche Botschaft möchte man damit vermitteln?
Herbert Von Leon: Es gibt eine Reihe von Veranstaltungen und Initiativen das ganze Jahr hindurch. Wir wollen nah an den Menschen sein und ihnen zeigen, wie zeitlos die Idee ­Raiffeisens ist.
Paul Gasser: Es soll keine reine Retrospektive werden, in der nur die Geschichte beleuchtet wird. Das Jubiläumsjahr steht unter dem Motto: „Gemeinsam erfolgreich“. In diesem Sinne steht vor allem die Kraft im Vordergrund, die von dieser Idee auch heute noch ausgeht und die uns helfen kann, neue Herausforderungen zu meistern.