Ausgabe 06/16 -

Europa braucht eine neue Vision

Am 29. und 30. November fanden die alljährlichen Herbstveranstaltungen des Raiffeisen InvestmentClubs im Unternehmen Intercable, Bruneck, und der Obstgenossenschaft MIVOR in Latsch statt. Referent des Abends war Wirtschaftsexperte und Leiter des ifo-Zentrums für Außenwirtschaft München, Prof. Dr. Gabriel Felbermayr. Er ging der Frage nach, ob in der aktuellen Krise Europas nicht auch die Chance für einen Neuanfang steckt.

Herr Felbermayr, Europa befindet sich in einer existenziellen Krise und in Umbruch. Welches sind die großen Herausforderungen der Zukunft?
Gabriel Felbermayr: Zum einen wird die relative Bedeutung Europas in der Welt aufgrund der demografischen Entwicklung und des Aufholprozesses in anderen Weltregionen dramatisch abnehmen. Zweitens werden durch die Überalterung der europäischen Gesellschaft die Erwerbsbevölkerung zurückgehen und soziale Systeme vor eine noch nie da gewesene Belastungsprobe gestellt. Und drittens muss man sich den Desintegrationsbestrebungen stellen, welche durch Konstruktionsfehler der Eurozone, des Schengenabkommens und durch die Missachtung des Subsidiaritätsprinzips hervorgerufen werden.

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Welche Maßnahmen sind notwendig, um das Vertrauen in ein gemeinsames Europa wieder herzustellen?
Gabriel Felbermayr: Wir brauchen eine neue Vision, hinter der sich die Europäer in ihrer großen Mehrheit stellen können. Europa darf kein Projekt der Eliten für die Eliten sein. Es darf keine Quelle der Verunsicherung und des Kontrollverzichtes sein, sondern ein Konstrukt, mit dem Unsicherheiten vermindert werden und die Europäer die Kontrolle über ihr Schicksal sichern können.

Konkret übersetzt heißt dies …?
Gabriel Felbermayr: … dass wir die EU-Verträge ändern müssen. Um Europa zukunftsfähig zu machen, müssen die Zuständigkeiten neu geordnet, die Währungsunion grundlegend reformiert und das Thema Migration angegangen werden. Meine Forderungen lauten: raus aus der Agrarpolitik, dafür eine gemeinsame Grenzsicherung mit dem Ziel, den Schengenraum zu erhalten und die Kontrolle über die Immigration in die EU zu halten. Raus aus der Regionalförderung nach dem Gießkannenprinzip, hin zu mehr Kompetenz bei überregionalen Infrastrukturnetzen (Verkehr, Energie, Daten), um den Binnenmarkt und die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Wichtig erscheint mir auch, die demokratischen Prinzipien in der EU weiter zu stärken, also die Stärkung des EU-Parlaments und direkte Demokratiebestrebungen voranzutreiben.

Wie konkurrenzfähig ist Europas Wirtschaft in der Welt? Wo liegen die größten Geschäftspotenziale?
Gabriel Felbermayr: Europa hat nach wie vor einen guten Ruf in der Welt. Der Kontinent steht für hohe Qualität, sowohl bei Gütern als auch bei Dienstleistungen. Europäische Unternehmen sind wettbewerbsfähig bei komplexen, technisch anspruchsvollen Produkten, bei Luxuswaren, im Qualitätstourismus. Weitere Geschäftspotenziale liegen sicherlich im ganzen Gesundheitssektor, in der Medizintechnik im Speziellen und in der Etablierung als „Feinkostladen“ der Welt.

BrExit

Der Brexit hat Kosten für alle Beteiligten: je stärker die Verbindungen eines Landes zu Großbritannien sind, umso höher sind die Kosten. Aber auch die britische Wirtschaft muss mit negativen Effekten rechnen.

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Welche Auswirkungen hat der Brexit auf die EU und für Großbritannien selbst?
Gabriel Felbermayr: Die langfristigen Auswirkungen lassen sich größenordnungsmäßig noch nicht abschätzen. Es hängt davon ab, ob es ein „soft Brexit“ oder ein „tough Brexit“ wird. In jedem Fall kommt es zu Kosten für alle Beteiligten, vor allem für Großbritannien selbst. Für Italien sind die negativen wirtschaftlichen Effekte überschaubar, aber die Nettozahlungen an die EU werden steigen. Kurz- und mittelfristig zu erwartende Effekte sind – bedingt durch die hohe Unsicherheit – starke Währungsschwankungen (was Exporte nach Großbritannien belastet) und Zurückhaltungen bei Investitionen (was die ­Konjunktur Großbritanniens abschwächt).

Zum Marktausblick: Wo sehen Sie derzeit die größten Risiken und Chancen für die Anleger?
Gabriel Felbermayr: Das größte Risiko liegt in neuem Chaos bei Euro-Staatsschulden. ­Sollte die EZB gezwungen sein, rasch die Zinsen zu erhöhen, wird es zu großen Verwerfungen kommen. Insgesamt tragen europäische Staatsschulden nach wie vor hohe Risiken in sich, solange die Währungsunion nicht zukunftsfest gemacht ist. Aufgrund des zunehmenden Zinsrisikos werden auch Anlagen in Betongold zunehmend problematisch, und zwar nicht nur dort, wo die Immobilienmärkte bereits überhitzt erscheinen. Das Zinsrisiko wird durch die Wahl Donald Trumps nur kurzfristig kleiner – heuer wird es wohl zu keinem Zinsschritt der Fed mehr kommen.

Mittelfristig könnten das angekündigte deficit spending – Steuern runter, Investitionen rauf – zu einer Überhitzung führen und dann zu einem relativ raschen Zinsanstieg. Die Aktien von international gut diversifizierten europäischen Unternehmen bieten hingegen nach wie vor Chancen, auch weil sie von einem Anziehen der Weltkonjunktur deutlich profitieren werden. Das gilt sogar noch mehr für Unternehmen aus den USA, weil hier auch positive Währungseffekte zugunsten europäischer Investoren zu erwarten sind. Allerdings sind gerade diese Unternehmen dem Risiko steigenden Protektionismus besonders ausgesetzt. In den nächsten Wochen wird es daher Sinn machen, auf Sicht zu fahren.

zur Person

Prof. Dr. Gabriel Felbermayr leitet seit Oktober 2010 das Zentrum für Außenwirtschaft am ifo Institut in München und hat eine Professur für reale und monetäre Außenwirtschaft an der Ludwig-Maximilians-­Universität inne. Er berät neben der deutschen und österreichischen Bundesregierung auch das deutsche sowie das europäische Parlament, die EU-Kommission, die Weltbank sowie diverse Stiftungen und politische Parteien. Seine Forschungsarbeiten wurden in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht.