Ausgabe 06/19 -

Die Schere zwischen Arm und Reich

Südtirol zählt zu den reichsten Regionen Europas, trotzdem leben 16 Prozent der Haushalte in relativer Armut. Wie kann es in einem reichen Land wie Südtirol überhaupt Armut geben? Die Gründe sind vielfältig, die Auswege schwierig.

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Auf den ersten Blick unterscheidet sich Armut in Südtirol und in Europa stark von Armut in jenen Ländern, in denen es für viele Menschen weder Schulen, Trinkwasser noch Krankenhäuser gibt und Millionen täglich gegen Unterernährung und Seuchen kämpfen. Aber Armut gibt es auch in Südtirol. Arm ist nicht nur, wer in Kartonschachteln unter der Brücke übernachtet, die Tage auf Parkbänken verbringt und ein Leben am Rande der Existenz führt. Die versteckte Armut betrifft hierzulande viel mehr Menschen, als wir glauben: laut Erhebungen leben rund 16 Prozent der Südtiroler Haushalte in relativer Armut. Als relativ arm gelten Haushalte, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens eines Landes zur Verfügung haben. Das betrifft ca. 35.000 Haushalte in Südtirol. Ohne die Transferleistungen von Land und Staat wie Wohngeld, soziales Mindesteinkommen ­­­und ­Renten wären es sogar 25 Prozent.


kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Rentner …

Von Armut besonders betroffen sind kinderreiche Familien, Arbeitnehmerfamilien mit nur einem oder geringem Lohneinkommen, Alleinerziehende, Rentner, Zugewanderte und Arbeitslose mit geringem Bildungsstand. Frauen sind dabei stärker als Männer betroffen. Ein Großteil der Armuts­betroffenen sind Kinder. Sind die Eltern von Armut betroffen und fehlen Aufstiegs- und Bildungs­chancen, bleiben oft auch die Kinder ihr ganzes Leben lang arm. Viele Menschen leben zwar nach außen ein normales Leben, können sich aber oft die grundlegenden Bedürfnisse nicht erfüllen.
Konkret bedeutet Armut immer einen Mangel an Möglichkeiten und Lebensqualität. Wer arm ist, muss in wichtigen Lebensbereichen wie Wohnen, Bildung, Gesundheit und Freizeit zurückstecken. Neben finanziellen Sorgen kommt der psycholo­gische Druck dazu, Ausgrenzung, Isolation, Vorur­teile und das Schamgefühl, mit anderen nicht mithalten zu können. Ursachen für Armut gibt es zuhauf: das geringe ­Einkommen, die hohen Lebens­haltungskosten, soziale ­prekäre Familienverhältnisse, eine Trennung, der ­Verlust des Arbeits­platzes, Krankheit, andere ­Schicksals­schläge u. v. m.

Der Wohlstand ist ungleich verteilt

„Von der guten Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre haben lange nicht alle profitiert – im Gegenteil“, meint Stefan Perini, Direktor des ­Arbeitsförderungsinstituts. Trotz abnehmender Arbeitslosenquote und zunehmender Erwerbstätigen steigt die Armut in den letzten Jahren an. Gründe dafür sieht er unter anderem in der schleppenden Lohnentwicklung: die Entlohnung in der Privatwirtschaft ist von 2010 bis 2017 real um 2 Prozent geschrumpft. Aber auch befristete Arbeitsverträge, unverhältnismäßig hohe ­Mieten und Lebenshaltungskosten, vor allem in den ­Ballungszentren, sowie das Auseinanderdriften hoher und niedriger Einkommen tragen dazu bei. Perini: „Armut in Südtirol ist zu einem guten Teil hausgemacht. Wohlstand und Reichtum wachsen, doch wächst ebenso die Ungleichheit in unserem Land. Immer breitere Bevölkerungskreise leben in unstabilen und unsicheren ­Verhältnissen, das Gefühl für soziale Gerechtigkeit sinkt.“ Das Einkommen aus lohnabhängiger Arbeit ist ungleich verteilt. So verdienen laut den vom AFI veröffentlichten Zahlen 13.483 Südtiroler über 75.000 Euro brutto pro Jahr. Dem stehen 113.416 Südtiroler ­gegenüber, die vor dem Fiskus für 2017 ein Gesamteinkommen unter 10.000 Euro brutto angegeben haben. Die Folge: die „Mittelschicht“, ein Garant für Wohlstand, Wachstum und ­Stabilität, wird nach und nach ausgehöhlt.

Viele Rentner mit Mindestpension sind armutsgefährdet.
Rentner Mindestpension

Arbeit macht nicht reich

Susanne Elsen ist Professorin für Soziologie an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen und Expertin für Solidarische Ökonomie. Sie sagt: „Die wirklich Reichen sind nicht reich wegen ihres Einkommens, sondern wegen ihres Vermögens. Das ist in der Regel entweder über Generationen entstanden oder sehr schnell und mitunter auch nicht immer ganz legal. Die Besteuerung müsse wieder weg von den Einkommen und hin zu den Vermögen gelenkt werden, damit sich Arbeit wieder auszahlt. Auch ein bedingungsloses Grundeinkommen würde ganz andere Lebensmodelle ermöglichen. Elsen erkennt aber besonders bei der jüngeren Generation ein Umdenken: „Dieses Bedürfnis, materiell mitzuhalten, spielt bei vielen jungen Leuten keine Rolle mehr. Die kaufen sich bewusst kein Auto, auch wenn sie es sich leisten können. Es geht um genug haben, anstatt viel haben.“

Wege aus der Armut

Armut hat viele Facetten und Dimensionen. Deshalb muss auch die Armutsbekämpfung an verschiedenen Punkten ansetzen. Die Politik ist in hohem Maße weiter gefordert, die ungleiche Einkommensverteilung durch Transferleistungen und Steuererleichterungen auszugleichen und die Altersvorsorge bewusst zu unterstützen. ­­Dreh- und Angelpunkt der Bekämpfung von ­Armut sind eine gute Ausbildung und eine ­gerechte Entlohnung. „Die Löhne müssen gerecht sein und mit den Lebenshaltungskosten steigen“, sagt Perini vom AFI (siehe Interview). Es braucht ein Bildungssystem, das jungen Menschen opti­male Entwicklungschancen bietet.

Es braucht aber auch Investitionen in soziale Infrastrukturen und Dienstleistungen (z. B. Kinder­betreuung), die qualitätsvoll, leistbar und für alle zugänglich sind. Last but not least ist jeder einzelne Bürger gefordert, sozial Schwächere in einer solidarischen Zivilgesellschaft aufzufangen und Hilfe zu leisten. In diesem Punkt können wir uns in Südtirol ­freuen: rund 168.000 Südtiroler – also fast jeder Dritte – leisten in den insgesamt 5.340 aktiven Non-Profit-Organisationen Freiwilligenarbeit. ­Dieses wertvolle Engagement kann nicht hoch genug geschätzt werden. Es kann in vielen Fällen Armut lindern, die Armutsursachen beseitigen kann es nicht.

 ARMUT IN SÜDTIROL – „Die Löhne sind zu niedrig“

Stefan Perini macht sich Sorgen um die Südtiroler Arbeitnehmer, die trotz hoher Arbeitsintensität mit ihrem Gehalt nicht über die Runden kommen. Wirtschaftswissenschaftler Stefan Perini ist Direktor des Arbeitsförderungsinstituts.

Herr Perini, was bedeutet Armut?
Stefan Perini: Es gibt verschiedene Armutsbegriffe. Am geläufigsten ist die Einkommensarmut, es gibt aber auch Erziehungsarmut, wenn Kinder vernachlässigt werden, oder soziale Armut, zum Beispiel Armut an Beziehungen.

 

Wie dringend ist das Problem in Südtirol?
Stefan Perini: Das Phänomen ist nicht massiv präsent,
aber es ist da, auch im reichen Südtirol.

 

Warum registrieren wir trotz Vollbeschäftigung
eine zunehmende Verarmung?
Stefan Perini: In Südtirol sind die Löhne für eine Reihe von Berufsbildern so niedrig, dass man wegen der hohen Lebens­haltungskosten auch mit einem Vollzeitjob kaum über die ­Runden kommt. Zwischen 30 und 40 Prozent der befragten ­Arbeitnehmer in Südtirol melden dem AFI, dass sie Schwierig­keiten haben, mit dem Einkommen über die Runden zu kommen.

Muss die Wirtschaft besser entlohnen?
Stefan Perini: Sagen wir so, es gibt noch Luft nach oben. Die ­Südtiroler Arbeitnehmer wurden vom wirtschaftlichen ­Aufschwung des letzten Jahrzehnts bestenfalls gestreift.

 

Wie kann man Armut und sozialer ­Ungleichheit ­entgegenwirken?
Stefan Perini: Wir müssen atypische Arbeitsformen durch eine differenzierte Behandlung bei der Wirtschaftsförderung ein­schränken und einen sozialpartnerschaftlich ausgehandelten „Südtiroler ­Mindestlohn“ einführen. Auch die Steuerhinterziehung muss eingedämmt werden. Wir brauchen ein lokales Modell der sozialen Grundsicherung und mehr Investitionen in Bildung, auch in die außerschulische, und allgemein in Betreuungs- und Pflegedienste. Im Klartext gilt es, einen Paradigmenwechsel einzuleiten: weg vom Prinzip „finanzielle Beiträge für alle“, hin zu „Grunddienstleistungen für alle“. Beim Geld weiß man oft nicht, ob es an der richtigen Stelle landet.